Koshiki Kata. Roland Habersetzer

Koshiki Kata - Roland Habersetzer


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wie es ihm vielleicht vor hundert Jahren noch möglich gewesen wäre. Es ist fruchtlos, auf der Grundlage veralteter Ansichten argumentieren zu wollen. Will der Karateka von heute auf der Höhe seiner Zeit sein, muß er so früh wie möglich die Karten des Spiels kennenlernen, das er beherrschen lernen will, auch wenn er noch nicht weiß, wie sie richtig einzusetzen sind. Warum sollte man denjenigen, die die ersten Stufen im Karate bewältigt haben, nicht die Reife zutrauen, selbst zum richtigen Zeitpunkt das Passende auszuwählen? Dies mag eine Utopie sein. Aber dennoch: Die Zeit der künstlichen Beschränkungen auf dem Gebiet der Kampfkünste ist vorüber. Das Budô unserer Epoche ist doch auch – und möglicherweise vor allem – eine Form, individuelle Freiheit zu erlangen, indem man frei und vollkommen über sich selbst – den Körper und den Geist – zu verfügen lernt. Und Freiheit gibt es nur, wenn man zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann. Was – hoffentlich – bleibt, sind freiwillige Beschränkungen, die es ermöglichen, ein wirklich tiefgründiges Verständnis zu erlangen. Jeder muß selbst abschätzen, was sich hinter der alten Weisheit, „sich langsam zu beeilen“, verbirgt. Jeder muß lernen, sein eigenes Richtmaß zu finden, seine Etappen abzustecken, seinen Rhythmus zu finden und Hindernisse zu akzeptieren. Dabei sind Beharrlichkeit wie auch Bescheidenheit gefragt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann es tatsächlich durchaus sinnvoll sein, sich auf die Intelligenz des Schülers bei dessen Auswahl zu verlassen, und dies zu einem früheren Zeitpunkt, als es einst üblich war.

      Die neue Begeisterung für die Kata ist eine großartige Sache, an deren Wiederkehr ich immer geglaubt habe, trotz aller Versuchungen, die ein Karate, das auf den Wettkampf oder auf seine spektakulären Aspekte reduziert wurde, darstellte. Ich will jedoch an dieser Stelle nachdrücklich darauf hinweisen, daß ein Buch lediglich die äußere Form vermitteln kann. Kein Wort, kein Bild vermag den wahren Reichtum einer Kata darzustellen. Dieser kann nur durch die Praxis entdeckt und erlebt werden. Eine Kata zwischen die Seiten eines Buches, ja, selbst in ein Video zu zwängen, ist kaum möglich. So etwas ist bereits bei einer isolierten Einzeltechnik nicht einfach. Die Beschreibung der Kata ist nur eine Art „Umkleidung“. Der tatsächliche Inhalt ist eine andere Angelegenheit. Dennoch, eine Umkleidung, die nicht allzu schwer zu „öffnen“ ist, ist bereits ein ermutigender Anfang.

      Dieses Buch ist als echtes Praxis-Handbuch konzipiert, das den Praktiker bis an die Grenze dessen zu führen vermag, was überhaupt durch Beschreibungen vermittelbar ist. Ich hoffe, daß jene, die es nutzen werden, genügend Erfahrung im Karate angesammelt haben, und daß sie so vernünftig sind zu wissen, daß jeder übermäßige Heißhunger abträglich für das Verinnerlichen der Formen ist. Daß die Kata für die Entwicklung des Selbst geschaffen wurden und nicht dafür, Wertschätzung in den Augen anderer zu gewinnen, gilt für die Koshiki Kata in besonderem Maße.

      Viele von Ihnen werden all dies bereits intuitiv gewußt haben. Lassen Sie sich nicht von den Erscheinungsformen und Versuchungen eines modernen Karate, das mehr und mehr zum Spektakel verkommt, irritieren. Vertrauen Sie darauf, daß nur die Kata, die auf hohem Niveau und in vollkommener Selbstlosigkeit praktiziert wird, Sie begreifen lassen wird, was die „Kunst der leeren Hand“ tatsächlich bedeutet. Sie werden schließlich unterscheiden lernen, was wirklich zu dieser Kunst gehört und was nicht, und Sie werden erkennen, was unbedingt bewahrt bleiben muß, wenn alles andere vergessen sein wird.

       Die Koshiki Kata des Karate: Grundlage und Gestalt

      Ich schrieb in einem meiner Bücher8, daß die Kata sowohl im Karate als auch in sämtlichen fernöstlichen Kampfkünsten das ist, „von dem alles ausgeht und zu dem alles eines Tages zurückkehrt“. Die Kata ist das erste, womit der Anfänger im Karate beginnt, und sie ist die letzte Form der Praxis, die der Karateka im Alter ausübt. Natürlich ist dies nur eine oberflächliche Beschreibung. Es ist richtiger zu sagen, daß der Anfänger damit beginnt, eine Kata zu üben, weil dies eine Aufgabe ist, die in jedem Dôjô, das etwas auf sich hält, gestellt wird. Der Anfänger wird noch nicht versuchen, herauszufinden, was genau eine Kata eigentlich ist. Er lernt die Kata, weil er keine andere Wahl hat, und natürlich auch, weil er jene Kata „beherrschen“ lernen möchte, die er benötigt, um höhere Graduierungen zu erhalten. Der Graduierte hingegen hat die Wahl. Er praktiziert die Kata aus freien Stücken, weil er sie begriffen hat. Der erfahrene, in die Jahre gekommene Karateka übt die Kata weiterhin, weil er mit dem, was er tut und dessen Sinn er begriffen hat, verwachsen ist. Und eines Tages ist dies die einzige Form seiner Kunst geworden, die er übt.

      Jahre der Praxis, eine lange technische und geistige Entwicklung führen dazu, daß die Wahrnehmung der Dinge, seien sie sichtbar oder unsichtbar, sich wandelt. Ein neues Verständnis der Kata bildet sich heraus. Die Kata ist nun nicht mehr ein symbolischer Kampf mit mehreren Gegnern nach festen Regeln, die vor langer Zeit unverrückbar festgelegt wurden. So erscheint sie lediglich am Beginn des Weges. Gegenstand dieses Buches ist hingegen die veränderte, gereifte Wahrnehmung der Kata, das neue Verständnis, das sich dem Praktiker nach vielen Jahren eröffnet. Solch eine Absicht leuchtet natürlich nicht ohne weiteres ein. Es erscheint zunächst schwer vorstellbar, wie eine „mündliche Tradition“9 durch die Seiten eines Buches vermittelt werden soll. Hinzu kommt, daß nicht wenige Bestandteile dieser mündlich übermittelten Tradition im 20. Jahrhundert verlorengegangen sind. Die modernen Techniken der Ton- und Bildaufzeichnung sind zu spät gekommen.

      Es darf nie vergessen werden, daß die Geschichte jeder Kata sich vor dem Hintergrund dreier bedeutender kultureller Umbrüche abspielte. Jeder Umbruch bedeutete einen Verlust an Wissen, sowohl, was die Form der Kata, als auch, was ihre Grundlagen anging. Zunächst, vor etwa zwei Jahrhunderten, teilweise aber auch schon eher, erfolgte die Umwandlung des Tôde10 in das Okinawa te, das heißt, die chinesischen Nahkampftechniken wurden auf die Insel Okinawa übertragen und an das dort bereits Bestehende angepaßt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelte sich das Okinawa te zum Karatedô. Dies bedeutete eine erneute Übertragung, verbunden mit neuerlicher technischer und kultureller Verarmung, was diesmal den Verschiedenheiten der Gesellschaftssysteme auf Okinawa und in Japan sowie den unterschiedlichen Mentalitäten und Sichtweisen der Okinawaner und der Japaner geschuldet war. Die dritte Wandlung erfolgte schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Karatedô zum modernen und sportorientierten Karate entwickelte, was mit einem weitgehenden Schwinden der kriegerischen Zweckbestimmtheit verbunden war. Modifikation, Verlust und Verarmung wurden zum weltweiten Phänomen, das in Japan mit seinem unbändigen Drang nach Modernität und Effizienz seinen Ausgang nahm.

      Man zählt rund 60 „klassische“ Kata, die spätestens im 19. Jahrhundert entstanden sind. Manche von ihnen haben noch immer erkennbare Wurzeln, die anscheinend bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Es ist nicht unbedingt notwendig, sie alle zu studieren, um erkennen zu können, was sich unter der Oberfläche der Kata befindet. Bereits das tiefgründige Erforschen einer einzigen Kata mit aller erforderlichen Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit kann ausreichen, das „Erwachen“ zu bewirken. Auf dieser Erkenntnis beruht auch die alte Weisheit „Hito kata san nen“ („drei Jahre für eine Kata“) und gleichermaßen der Begriff der Tokui-Kata, der bevorzugten Kata eines Praktizierenden, die er viele Jahre lang übt und verfeinert. Natürlich kann im Laufe des Lebens eine bevorzugte Kata mehrere Male durch eine neue abgelöst werden. Das hängt davon ab, wie sich die technischen Fertigkeiten des Karateka und seine Fähigkeit, das „Innere“ der Kata zu erfassen, entwickeln, oder es liegt an seiner körperlichen Eignung für diese und jene Technik, welche sich mit dem Alter ändern kann. Aber ein solcher Wechsel ist weder erforderlich noch unabwendbar. Es ist sehr gut möglich, daß eine am Anfang getroffene gute Wahl dem Karateka ermöglicht, sein ganzes Leben einer oder zwei Kata treu zu bleiben. Es gibt nicht wenige Beispiele aus der Vergangenheit, wo ein Meister weitbekannt dafür war, eine bestimmte Kata auf beispielhafte Weise zu beherrschen.


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