Koshiki Kata. Roland Habersetzer

Koshiki Kata - Roland Habersetzer


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allen fernöstlichen Kampfkünsten hoch angesehen ist, zur vielgerühmten Einheit von Körper und Geist. Und dieses Tätigsein besteht gewiß nicht darin, das Ego wachsen zu lassen.

      Die Schöpfer der Kata haben die darin enthaltenen Bewegungen als Code zusammengestellt, durch den der Geist der Kata vermittelt wird. Im Laufe der Zeit verarmten die Kata, verblaßte ihr Sinngehalt. Dies lag nicht zuletzt an der mangelnden Sorgfalt jener, die mit ihrer Weitergabe betraut waren. Um den ursprünglichen Geist erhalten bzw. wiederentdecken zu können, ist es nötig, respektvoll auf das zurückzugreifen, was vor dem Prozeß der Verarmung bestanden hat. Dies stellt keine leichte Aufgabe dar. Der Forscher sieht sich heute mit geradezu archäologischen Aufgaben konfrontiert, und was er mit viel Geduld zutage fördert, sind oftmals nichts als brüchige Fragmente, angenagt vom Zahn der Zeit. Die Aufgabe, die Gesamtheit des Aufgefundenen zu rekonstruieren, verlangt ein hohes Maß an Vorstellungskraft und Interpretationsvermögen. Was aber zählt, ist die Tatsache, daß die Arbeit, das Puzzle wieder zusammenzusetzen, voranschreitet und daß mehr und mehr Karateka dies zu schätzen wissen.4 Diese Karateka sind zu der Einsicht gelangt, daß das Bindeglied nicht verloren gehen darf, welches sie mit der Vergangenheit und mit dem tatsächlichen Daseinsgrund eines Kriegerweges (Budô) verbindet, der eben nicht im sportlichen Wettstreit liegt. Ihr Anspruch auf diesem Gebiet hat sich im übrigen derart deutlich gezeigt, daß heute selbst die Vereinigungen des Sportkarate sowie die Stilrichtungsverbände darauf mit „Kata-Wettkämpfen“ reagieren – eine weitere Verirrung im sogenannten modernen Karate.5 Denjenigen, der den Inhalt vom Behältnis zu unterscheiden weiß, wird dies kaum beeindrucken. Aber natürlich ist selbst solch ein Spektakel, das für ein Publikum von Praktizierenden und Nichtpraktizierenden aufgeführt wird, besser als nichts. Auch wenn es nur den untersten Grad der Wahrnehmung einer Kata darstellt, so bedeutet es doch auch ein Überleben, ein Nichtvergessen dieser „Mutterformen“ der Kunst der „leeren Hand“. Dies gilt in jedem Fall, selbst heute, wo wir im Multimedia-Zeitalter leben, in dem jedermann sich der Illusion hingeben kann, mit Hilfe von Videoaufzeichnungen seine „Kenntnisse“ über okinawanische oder japanische Kata oder über chinesische Tao aufzustocken. Die Überfülle solchen Materials, mit dem der Markt überschwemmt wird, wirkt sich im Endeffekt sehr nachteilig hinsichtlich des Echten und Gelebten aus, das hierdurch weiter in den Hintergrund gedrängt wird.

      „Eine Kata in drei Jahren“ … Sollte der moderne Karateka etwa nicht über die Mittel und Möglichkeiten verfügen, die es ihm erlauben, schneller die Abschnitte der traditionellen Entwicklung durchlaufen zu können? Die wenigen alten Meister, die heute noch auf Okinawa oder in Japan leben, pflegen über solche Ansichten höflich zu lächeln, sie lassen die Leute in ihrem Glauben. Was sollte es nutzen, dagegen anzukämpfen? Die größeren Optimisten glauben, daß die Zeit für das Traditionelle wiederkommen wird. Auch ich glaube daran. Aber der Zugang zu den Quellen wird immer schwieriger.

      Die klassische Kata verhält sich zum modernen Karate wie der Wiegendruck, die Inkunabeln6, zum modernen Buch. Die Inkunabeln stellten die ersten, mit größter Sorgfalt gedruckten Texte dar. Jene seltenen jahrhundertealten Exemplare, die den Stürmen der Zeit widerstanden haben, werden heute als Schätze in Museen oder Spezialsammlungen gehütet. Wie groß auch immer die Reize, die Vorteile, die Ästhetik eines modernen Druckerzeugnisses sein mögen, nichts kann die unvergleichliche Ausstrahlung, die Tiefe und die Absicht, kostbares Wissen zu vermitteln, die diesen uralten Dokumenten anhaftet, ersetzen. Man könnte auch von einer besonderen Art des „Qi“7, das von den Inkunabeln ausgeht, sprechen.

      Die klassische Kata enthält für denjenigen, der versteht und willens ist, dies zu erkennen, den tiefen Sinn der Dinge und des Lebens. Sie ist ein Weg für den Menschen, der unaufhörlich danach strebt, sich zu entwikkeln, zu werden. Es ist sehr wichtig, den Suchenden die Möglichkeit zu eröffnen, die „Inkunabeln“ des Karatedô zu studieren. Dies ist der wesentliche Grund für die langwierige und umfangreiche Arbeit, die schließlich in diesem Buch mündete. Ich wünsche dem Leser, daß die Lektüre seine Leidenschaft als Karateka neu zu entfachen vermöge, und daß ihm diese Leidenschaft sein Leben lang erhalten bleibe.

      Lange Zeit kamen die Karateka der westlichen Länder nur langsam voran, ihre Kenntnisse im Karate blieben elementar, und ihr Wissen über die Kata stagnierte in den Anfängen. Damals stürzten sich die Kampfkunstenthusiasten auf die Lehrgänge, die durch japanische Experten abgehalten wurden, von denen die meisten jedoch ihr heißbegehrtes Wissen für gewöhnlich recht knausrig weitergaben. Aber die Möglichkeit, eine neue Kata erlernen zu können, in welcher Form auch immer, ließ einen über alle Mängel hinwegsehen. Man nahm es hin, daß die verschiedenen Kampfkunstexperten die gleiche Kata teilweise etwas unterschiedlich ausführten, man akzeptierte die Ungenauigkeiten und Fehler, die unter diesen Umständen unvermeidlich waren, und man arrangierte sich damit, daß selbst ein und derselbe Experte mitunter von einem Jahr zum anderen Bewegungsabläufe veränderte. Man wollte endlich Zugang erlangen zu jenen Kata, die manchmal als „höhere“ bezeichnet werden, weil sie nur den Trägern höherer Dangrade gezeigt wurden. Auf diese Weise glaubte man, das Karatedô besser begreifen, zu seiner wahren Wirkung vordringen zu können. Durch diese jugendliche Ungeduld, den verständlichen Heißhunger der neuen Adepten der Kampfkunst, verankerten sich allerdings auch manche Irrtümer und falsche Vorstellungen.

      Indem namhafte Experten ihr Wissen bloß häppchenweise vermittelten, banden sie ihre Anhängerschaft immer fester an sich. Sie prägten den Kata, die sie lehrten, ihre persönliche Note und originelle Variationen auf und modifizierten sie somit. In der Folge kam es dann zu Spaltungen, die selbst Karateka ein und derselben Stilrichtung voneinander trennten. Die „Alten“ werden sich noch lange an die „Kata-Schlacht“ erinnern. Dieser Kampf wurde auf raffinierte Weise mittels eifersüchtig gehüteter Formen, Exklusivitäten, sorgfältig aufrechterhaltener Unklarheiten und künstlicher Erschwernisse hinsichtlich der Bunkai ausgetragen. Mitunter waren die Unterschiede aber auch schlichter Unwissenheit der Experten geschuldet. Solches Nichtwissen verlor allerdings seine Unschuld in dem Augenblick, wo es als angebliches Geheimwissen getarnt wurde. Der Streit der Spezialisten wurde bis heute nicht gänzlich beigelegt. Anhänger und Gegner einer bestimmten Variante verfügen über gleichermaßen gute Argumente, was letzten Endes nur eines beweist: Was immer man über eine Kata sagt, wie immer man sie interpretiert, ab einem bestimmten Niveau des Verständnisses bleibt sie stets sie selbst. Dies setzt natürlich voraus, daß gewisse Grundzüge gewahrt bleiben. Hinter Dogmatismus verbirgt sich oftmals nichts weiter als eine fragmentarische Kenntnis der Dinge. Der durchschnittliche Karateka verlor in diesem Streit allzuoft einfach jede Orientierung, und dies gilt nach wie vor.

      Dennoch haben sich die Zeiten geändert. Viele Karateka hohen Niveaus aus Europa und Amerika sind mittlerweile nach Japan, an die Quelle ihrer Kunst, gereist und haben von dort vollkommen klare und gut beherrschte Ausführungsformen der Kata mitgebracht. Auch sind seit damals zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die jene Kata allgemein zugänglich werden ließen, die allzu lange einer Handvoll sich für eine Elite haltender Glückspilze im Umfeld einiger Wissensträger vorbehalten waren. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, eine Befreiung aus der Abhängigkeit. Die Demokratisierung der Kata, aller Kata einer Stilrichtung, bedeutete schließlich, daß ein freier Zugang zur authentischen Kultur des Karatedô möglich wurde. Niemand mußte sich mehr mit frustrierenden Bruchstücken, mit deformierten Häppchen abspeisen lassen. Die ungerechtfertigten und unbegreiflichen Hemmnisse waren beseitigt. Die großartige Entwicklung des Karate in den letzten Jahren hat einige Riegel aufspringen lassen und einige vorgebliche Dogmen revidiert.

      Man kann nun einwenden, daß unter diesen Bedingungen die Gefahr, sich von der Tradition zu entfernen, nur noch größer geworden ist. Besagt doch deren Weisheit, daß nur durch langsames Fortschreiten echtes Wissen entsteht. Damit der Schüler das Wissen korrekt aufnehmen kann, muß es ihm der Meister zum rechten Zeitpunkt vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl offenbaren. Dieser Einwand ist voll und ganz berechtigt. Aber einerseits hat sich heute das vertrauliche Lehren im Rahmen einer kleinen Gruppe überlebt oder ist zumindest zur Ausnahme geworden, und andererseits, ob man dies wahrhaben will oder nicht, haben der Einfluß der Massenmedien und der


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