Das große Sutherland-Kompendium. William Garner Sutherland
der Atemwege habe ich in der Vergangenheit Millers lymphatische Pumpe verwendet. Aber mit der Kompression des vierten Ventrikels habe ich eine Methode zur Hand, die einfacher und effektiver ist, weil ich dabei auf den grundlegenden Kontrollmechanismus einwirke. Ich lasse den Körper des Patienten seine eigene Regulation vornehmen, ganz so, wie es für ihn gerade notwendig ist.
Denken Sie nur einmal an den Wert einer Methode, die Auswirkungen auf die Funktion des Geburtszentrums in der Medulla oblongata hat. Es ist eine einfache Technik, die einen großen Zweck verfolgt – eine Wehenschwäche zu überwinden und den Geburtsvorgang zu erleichtern. Einige der anderen physiologischen Zentren am Boden des vierten Ventrikels sind ein kardialer Inhibitor und ein kardialer Beschleuniger zur homöostatischen Kontrolle der Herzaktivität.
Die hemmende Kontrolle erfolgt auf parasympathischen Weg: durch den N. vagus. Die Beschleunigung erfolgt über das sympathische Nervensystem. Sie wissen, dass die Vagusnerven den Schädel durch die Foramina jugulares zusammen mit dem neunten und XI. Hirnnerv und den inneren Jugularvenen verlassen. Rufen Sie sich in Erinnerung, dass die Foramina jugulares durch die Verbindung von Os temporale und Os occipitale gebildet werden. Wenn es hier zu einem Strain kommt, gibt es offensichtliche Veränderungen von Größe und Form der Foramina jugulares. Ein Entrapment-Syndrom kann die Folge sein.
Weitere physiologische Zentren am Boden des vierten Ventrikels sind: ein Zentrum für Schwitzen; ein Temperaturkontrollzentrum; das Atemzentrum; Funktionskontrollen für Niesen und Husten; zudem Zentren für die Regulierung des Speichelflusses, des Erbrechens, des Blutzuckerspiegels und des Verdauungstrakts. Beachten Sie, dass die Nervenkerne der VIII. Hirnnerven im Truncus cerebri liegen und dass das Cerebellum über dem Dach des vierten Ventrikels liegt. Folglich sind auch die Funktionen des Hörens, der Gleichgewichtskontrolle und der Körperhaltung in diesem Bereich konzentriert.
Was kann ein Osteopath mehr verlangen, als dass es ihm möglich ist, von außen Kontakt mit einem Bereich aufzunehmen, an dessen Innenseite sich derart viel Regulierungskraft befindet? Wenn die Behandlung für ein klinisch relevantes Problem ansteht, braucht er nur sein Wissen über jene Funktionen anzuwenden, die mit der Medulla oblongata, der Pons und dem Tentorium cerebelli in Zusammenhang stehen. Mit seinen operativen Fähigkeiten, die Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit innerhalb der Fossa cranii posterior zu lenken, hat er die Zügel geradewegs in seinen Händen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, wie nützlich die Kontrolle der Fluktuation der Zerebrospinalen Flüssigkeit ist, wenn Sie chronische Dysfunktionen der Wirbelsäule behandeln. Ich nenne es, in alte rostige Gelenke ‚Öl als Gleitmittel‘ bringen. Ein Mechaniker, der es mit einer alten, verrosteten Mutter und Schraube zu tun hat, wird keinen Schraubenschlüssel nehmen, um sie zu drehen. Er gibt zunächst einen oder zwei Tropfen Öl darauf, die sich zwischen den Windungen verteilen. Nachdem das Öl einwirken konnte, nimmt er lediglich seine Finger, um Mutter und Schraube zu drehen und verletzt dann weder die Windungen der Mutter noch jene der Schraube. Indem Sie die Tide auf jene kurze rhythmische Periode und zu jenem wichtigen Austausch zwischen allen Körperflüssigkeiten verlangsamen, können Sie besagte chronische Zustände schrittweise so ‚einölen‘, dass sie zum normalen funktionellen Zustand zurückkehren. Eine Fibrose verschwindet so ebenfalls langsam, und allmählich bildet sich wieder normales muskuläres Gewebe.
Sie können die Tide vom Sakrum aus untersuchen, wenn Sie einen Fall vor sich haben, bei dem ein Schlaganfall zu drohen scheint, eine akute Kopfverletzung oder möglicherweise ein Schädelbruch vorliegt.74 Mithilfe des Sakrum bringen Sie die Fluktuation der Tide herunter auf jene kurze rhythmische Periode und schaffen damit eine Möglichkeit der Ruhe. John Hilton schreibt in Rest and Pain:
„Ich denke, dass die Art und Weise, wie man eine äußere Verletzung behandelt, uns auch darauf hinweist, wie man möglichst bei einer Gehirnerschütterung vorgehen sollte. Hier sollte zweifellos unsere Pflicht liegen: dem Gehirn absolute Ruhe zu verschaffen; sich zu verlassen auf … die Kraft der Natur, die Verletzung oder Störung zu reparieren; Stimulanzien zu vermeiden, die eine unmittelbare Reaktion hervorrufen, und sehr dazu neigen, Schaden anzurichten […]“ 75
ERFAHRUNGEN MIT LIGAMENTÄREN GELENKMECHANISMEN
Als ich im Jahre 1920 Mitglied im ersten House of Delegates der American Osteopathic Association war, blieb mir nur wenig Zeit außerhalb des Konferenzraumes. Dennoch benutzte ich jede Gelegenheit, um Virgil Halladay D.O., damals Professor der Anatomie an der American School of Osteopathy in Kirksville, Missouri, aufzusuchen. Er hatte ein kleines Buch mit dem Titel The Applied Anatomy of the Spine geschrieben, welches auf jenem speziellen anatomischen Modell basierte, das er zur Konferenz mitbrachte.76
Das Modell bestand aus sämtlichen Knochen des Beckens, der Wirbelsäule und des Thorax, durch Bänder zusammengehalten und so präpariert, dass sie federnd und funktionsfähig erhalten blieben. Die gesamte Muskulatur war entfernt worden.
Während ich das Modell studierte, pflegte ich die Ossa ischii federnd zusammenzudrücken, um zu studieren, wie die iliosakralen Gelenke funktionierten. Sobald ich die Sitzhöcker zusammenschob, bewegten sich die Ilia im oberen Bereich auseinander. Wenn ich die Sitzhöcker auseinanderzog, kamen die Ilia im oberen Bereich zusammen. Ich sah, dass die Bänder das Becken zusammenhalten und auch den Bewegungsradius in diesem Bereich regulieren.
Durch das Studium des ligamentären Gelenkmechanismus im Becken lernte ich genug, um mit der Nadel und den Methoden der ambulanten Proktologie innerhalb meiner eigenen Profession konkurrieren zu können. Was geschieht, wenn Sie die Gewebe im kleinen Becken zusammendrücken? Was geschieht, wenn Menschen auf das Gesäß fallen und das Colon ascendens oder das Sigmoid unten im kleinen Becken blockieren? Sehen Sie einen Zug auf die Faszien? Oder Schwierigkeiten beim venösen Rückfluss aus den Venen des Beckens? Oder einen Strain des Diaphragma pelvis, aufgrund dessen sich Hämorrhoiden, ein Gebärmutterprolaps oder eine Prostatavergrößerung entwickeln können? Mit dieser Sichtweise der Anatomie, indem ich wie Dr. Still Osteopathie dachte, entwickelte ich mehrere Methoden, die ich die ‚Schoß-Techniken‘ nannte. Dabei saß ich vor der Behandlungsbank und ließ den Patienten sich auf meine Knie setzen. Nun musste ich nur noch abhängig vom Beckenbefund die Ossa ischii zusammen- bzw. auseinanderziehen. Es ist einfach, aber um ein guter Mechaniker zu sein, müssen Sie etwas über den Mechanismus wissen.
Etwa um diese Zeit war bei den Osteopathen neues Interesse an Fußproblemen erwacht. Viele dachten sich Techniken für den Mechanismus der Füße aus. Wenn Sie schmerzhafte Fußprobleme erfolgreich diagnostizieren und behandeln können, haben Sie schon einiges über den Mechanismus des lebenden menschlichen Fußes verstanden.
Ich habe Therapeuten gesehen, die das Os cuneiforme laterale attackierten und versuchten, es mit Gewalt an den richtigen Platz zu schieben oder es mithilfe der Zehen herauszuziehen, wenn es abgesunken war.
Wenn Sie aber den Mechanismus und den Platz des Os cuneiforme laterale im Mechanismus begreifen, können Sie sich einfach in dieses Gebiet begeben und spüren, wann Sie den Balancepunkt erreicht haben. Sie brauchen sich lediglich in Erinnerung rufen, dass die Bänder einen bestimmten Bewegungsradius zulassen. Es ist einfach, ihnen die Neuanordnung der Knochen zu überlassen. Sie können auch die Funktion jenes kleinen Lig. talocalcaneum wahrnehmen und sehen, dass Sie es zur Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Talus und Calcaneus nutzen können.
Das Bein ist ein membranöser Gelenkmechanismus. Ebenso der Unterarm. Es gibt dort die Membrana interossea cruris und entsprechend die Membrana interossea antebrachii. Sie können diese Membranen wie die Bänder zum Wiederherstellen der Beziehungen zwischen den Knochen nutzen. Dies liegt daran, dass sie in ihren lokalen Mechanismen wie Bänder funktionieren.
Dr. Still erteilte mir einmal zusammen mit dem Rest unserer Klasse eine Lektion. Ein Mitstudent war in einen rostigen Nagel getreten. Die übliche Wundversorgung und Reinigung war durchgeführt worden, aber die Wunde wollte nicht heilen. Sie begann sich zornig rot zu verfärben, also riefen wir den Alten Doktor. Er sagte: „Ihr verdammten Narren!“ Und das waren wir auch. Wir hatten keinen Gedanken daran verschwendet, dass der Patient sein Bein nach oben zurückgezogen hatte, als er auf den Nagel getreten war. Was war geschehen? Die kleine Articulatio