Ursula jagt eine Diebin. Herta Fischer
und zeichnete mit einem Stock Mondgesichter in den Sand. Angelika hatte die Nase wieder im Buche stecken, während die übrigen Mädchen Dora bestürmten, ihnen eine Geschichte zu erzählen.
Plötzlich fuhren alle auf. Den nahen Waldweg entlang kam ein Handwagen gerattert. Zwei Jungen hatten sich vor die Deichsel gespannt, zwei andere schoben, im Wagen aber saßen zwei Mädchen und trieben ihre »Zugtiere« mit lautem »Hü« und »Hott« zu schnellerem Laufe an, fuchtelten dabei mit den Armen, knallten mit eingebildeten Peitschen und kreischten laut und vergnügt, wenn die Fuhre schwankend über Wurzeln und Steine glitt. Wohin sollte die lustige Fuhre denn gehen?
»Wir sammeln Holz für die alten Leute im Dorf«, rief ein Blondkopf, dem die Sommersprossen wie Tintenspritzer um die Nase saßen, »es gibt fünf Rentner, die schon zu alt und zu schwach sind, um selbst zu gehen, denen helfen wir.«
»Achtung! Bahn frei!«, verlangte ein anderer, weil Iris, die auf einem Baumstumpf saß, ihre Storchbeine bis in den Weg hineinstreckte. Sie sprang erschrocken zur Seite. Wie die Wilde Jagd sauste die Fuhre vorbei. Es ging bergab, und das fröhliche Geschrei war noch lange zu vernehmen.
»Was die für Krach machen«, sagte Ursel missbilligend und drehte sich auf den Bauch, weil der Rücken nun auch einmal braun werden sollte. Iris gähnte. Angelika vertiefte sich wieder in ihr Buch.
»Ihr liegt ja immer noch hier!«, rief der sommersprossige Blondkopf, als die Holzsammler zwei Stunden später mit hochbeladenem Handwagen zurückkehrten. Sie ließen den Wagen am Ufer des Waldsees stehen und zogen Kleider und Hemden über den Kopf.
»Erst abkühlen, ehe ihr ins Wasser geht«, rief ihr Gruppenleiter Horst, der langsamer nachgekommen war.
»Dürfen wir auch noch einmal schwimmen?«, bat Jutta.
Dora Mühlberg, die froh war, keine Geschichten mehr erzählen zu müssen, nickte. »Aber nur noch eine Viertelstunde.« Bald danach tobte eine wilde Wasserschlacht. Die Mädchen versuchten, den Blondkopf zu tauchen, doch der schwamm so schnell und spritzte ihnen mit den Beinen so viel Wasser ins Gesicht, dass sie nicht an ihn herankamen. Danach veranstalteten sie ein Wettschwimmen, einmal über den See und zurück. Siegerin war Iris und Zweiter ein Junge, der fast ebenso lange Beine hatte wie sie.
»Schafft ihr das Holz nun gleich nach Sperlingsfeld?«, fragte Karla, als sie alle wieder ans Ufer geklettert waren und sich von der Sonne trocknen ließen.
»Ach wo! Erst holen wir noch mehr. Dann wird es gehackt und gebündelt.«
Am nächsten Morgen, als Gruppe VIII schon dabei war, dort, wo die Hecke hinkommen sollte, die Erde auszuheben, Gruppe VI im Hausgärtchen Unkraut zupfte und die Kleinsten »Faules Ei« spielten, hörte die ehrgeizige Lore zufällig, wie Onkel Max zu Dora sagte: »Wir müssen jemanden zum Postholen schicken.«
Sogleich meldete sie sich: »Gibt’s dafür Punkte für den Wettbewerb? Dann gehe ich.«
Kopfschüttelnd entgegnete der Heimleiter: »Dafür nicht! Tust du denn alles nur noch für Punkte und gar nichts mehr aus gutem Willen, um jemandem eine Freude zu machen?«
Lore schmollte: »Ich will doch mit ins rote Buch.«
»Ach, geh!«
Dora winkte Iris herbei, die in der Nähe stand, und fragte sie: »Willst du die Post holen?«
»Gern!«, rief Iris begeistert, »darf Ursel mitgehen?«
Sehr froh, auf eigene Faust Entdeckungen machen zu können, zogen die beiden ab, spazierten durch den ehemaligen Schlosspark, der einen kleinen halb versumpften, mit Entengrütze überzogenen Teich hatte und in dem Eichen, Ahornbäume und hohe Rotbuchen mit breiten Kronen standen. An den Stämmen huschten Eichhörnchen hinauf. In den dichten Hecken nisteten Vögel. Ein klarer Bach, von Vergissmeinnicht umwachsen, rieselte durchs Gesträuch. Im Schloss, in dem man seit einiger Zeit die Zentralschule untergebracht hatte, herrschte Stille, denn es waren Ferien. Nur ein einziger Mann war zu sehen, der einen Baumstamm zersägte. Er nickte den Kindern freundlich zu, als sie bei ihm stehen blieben, und fragte, woher sie kämen.
»Aus Sternstadt«, erzählte Ursel fröhlich. »Wir sind aus dem Heim vom VEB Bau. Wir sollen uns hier erholen und rote Backen bekommen.«
Der Mann machte eine kleine Pause, stemmte die Fäuste auf die Hüften und grinste. »Ihr zwei kommt mir eigentlich gar nicht erholungsbedürftig vor. Du hast Backen wie ein Spanferkel, und deine Freundin … na, wenn sie auch ein bisschen mager ist, so schaut sie doch gesund aus wie ein Fisch im Wasser.«
Iris behauptete sehr ernsthaft: »Ja, aber die vielen Schularbeiten, die strengen nämlich an!« Dabei kniff sie Ursel übermütig in den Arm. Die musste sich ohnehin schon das Lachen verkneifen, fügte aber ebenso sorgenvoll und bedächtig hinzu: »Jaja, unsere Nerven haben es wirklich sehr nötig.«
Der Hausmeister musterte sie verschmitzt: »Habt ihr denn auch schon Nerven?« Da konnten sie nicht mehr an sich halten, stoben plötzlich wie die Irrwische davon und hörten nicht mehr, wie der Mann am Sägebock ihnen lachend nachrief: »Na wartet, ihr Grünschnäbel, eure Nerven werden wir euch hier schon noch kurieren!«
Nach ein paar Minuten tauchten vor den Mädchen die ersten Häuser des Dorfes auf. »Du, Iris, ich glaube, wir müssen uns jetzt wirklich ein bisschen gesitteter benehmen«, meinte Ursel, »sonst bekommen die Sperlingsfelder einen schlechten Eindruck von uns.«
»Natürlich«, stimmte Iris zu. »Meinst du, dass uns der Mann unsere große Klappe übel genommen hat? Ich glaube nicht. Er hat doch gelacht.«
Sie gingen die Dorfstraße entlang, schauten neugierig in alle Ecken und Winkel und fanden schließlich die Post. Mit einer Tasche voller Briefe und Karten traten sie den Heimweg an. Im Schlosspark stand jetzt der Sägebock verlassen. Der Hausmeister war wohl frühstücken gegangen. Dafür begegneten sie einer alten Frau mit zersorgtem, runzligem Gesicht. Sie trug eine Schürze und ein rotes Umschlagtuch. In der einen Hand hielt sie einen mit Himbeeren gefüllten Krug, mit der anderen stützte sie sich schwer auf einen festen Stock.
Ursula und Iris, ihrer guten Vorsätze eingedenk, grüßten höflich: »Guten Tag!«, erhielten jedoch als Antwort nur ein mürrisches Brummen.
»Die ist aber unfreundlich«, meinte Iris. Gleich darauf fanden die Mädchen einen Bund Schlüssel, der mitten auf dem Parkweg lag. »Ob er der Alten gehört?« vermutete Ursula. »Komm, wir laufen ihr nach.«
Schnell holten sie die Frau ein und reichten ihr den Fund. Mit gedankenverlorenem Kopfnicken nahm ihn die Alte und steckte die Schlüssel in die Schürzentasche. Die Kinder würdigte sie nur eines kurzen Blickes aus ihren grauen, weltfernen Augen. Vor sich hin brummend, schlurfte sie weiter.
»Pu!«, sagte Ursula. »Die mag ich nicht leiden.« Auch Iris schüttelte sich. »Die ist garstig!«
Gleich darauf aber rief sie: »Wollen wir mal über den Bach springen?«
»Der ist zu breit!«, stellte Ursel fest. »Wir kommen nicht drüber. – Aber, du, ich weiß was Besseres!«
»Was denn?«
»Wir könnten schnell mal drin baden.«
»Baden? Meinst du?«, Iris zögerte nicht lange. »Ach ja, es ist so heiß. Ich schwitze fürchterlich.«
»Aber wir haben keine Badeanzüge.«
»Macht nichts!«, Iris zog schon das geblumte Dirndl über den Kopf. »Hier sieht uns doch kein Mensch.«
Sie legten ihre Kleider fein säuberlich über einen Baumstumpf. Die Tasche mit den Postsachen stellten sie daneben. Zuletzt legte Ursula ihr silbernes Armband, das sie von ihrer Tante zum Geburtstag bekommen hatte, obenauf. Zwischen den Holundersträuchern war der Bach am tiefsten. Dort setzten sie sich ins Wasser, kreischten, weil es so kalt war, bespritzten sich lachend und jubelten vor Vergnügen, bis Ursula mahnte: