Fallsucht. Lotte Bromberg
sagte Jakob.
»Besonders auf der Gynäkologie«, sagte Oskar.
Sie nickten sich zu und näherten sich der Tür, über der die Lichter Alarm schlugen. Nichts war zu hören. Jakob klopfte, öffnete die Tür und verschwand in dem Zimmer. Oskar steckte seine Waffe zurück ins Halfter, griff sich einen der herumliegenden Stühle, testete ihn auf Standfestigkeit und setzte sich neben der Tür an die Wand. Frauen waren eindeutig Jakobs Revier. Geister und Frauen, was vermutlich irgendwie zusammenhing. Zeit für eine kleine Dösepause. Er verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen.
Jakob sah auf den Rücken einer großen, schmalen Frau, die am offenen Fenster stand, in den eisigen Berliner Morgen hinaussah und eine Zigarette rauchte. Wenn sie den Arm hob, um einen Zug zu nehmen, spannte sich der weiße Kittel in ihrem Rücken.
Das Zimmer war klein, aber gemütlich. Eine Gegenwelt zu der technischen Kälte hinter der Tür. Ganz zu schweigen von dem Chaos. Auf einem Tischchen nah am Fenster verteidigte ein Christstern aus dem letzten Jahr tapfer seine Stellung. Galt sicher als unhygienisch.
Jakob erinnerte sich, daß er als Knirps seiner Mutter bei ihrem Generalprobenausflug in die Hölle nur noch Schokolade mitgebracht hatte, weil er die Blümchen immer wieder mitnehmen mußte. Rechts den Gang hin mit der Faust um die armen kleinen Stengel, links den Gang zurück. Wenn er sie zuhause losließ und sein Vater eine Vase suchte für die Weitgereisten, waren sie längst in Sorge und Liebe erstickt. Weinte er dann, schloß der große, starke Vater seine rauhen, warmen Hände um Jakobs weichen Kinderkopf und der verkroch sich in ihrer Höhle, wo kein Platz war für sterbende Mütter. Später hatten auch die Tafeln beim nächsten Besuch unberührt auf dem Nachtisch gelegen, umkreist von Schalen und Dosen mit Tabletten.
Also hatte er Bilder von ihrem Cello mitgebracht, oder zumindest dem, was ein siebenjähriger Wurm so malen kann. Es mußte ähnlich gewesen sein, zumindest war sie in Tränen ausgebrochen und hatte ihn an sich gedrückt, wobei er die Luft anhielt aus Sorge, ein tiefer Atemzug könnte ihren Brustkorb zerbrechen und sie würde nie wieder für ihn spielen.
Jakob ging auf den Tisch mit dem Christstern zu, zog sich einen Stuhl vor und setzte sich. Die Frau zeigte keine Regung. Draußen lärmten die Spatzen der aufgehenden Tiefkühlsonne entgegen als würde Hertha gegen Bayern antreten.
»Überall zwitschern die Vögel erst im Frühling, nur in Berlin quatschen sie schon bei Eis und Schnee«, sagte Jakob.
»Wir reden doch auch immerzu, egal ob wir was zu sagen haben«, sagte die Frau. »Hauptsache, es ist nicht still.«
»Aber was die Vögel erzählen, ist schöner.«
»Das hängt damit zusammen, daß sie singen.«
»Sollten wir vielleicht auch. Aber ich glaube, ich werde lieber von Spatzen auf meiner Fensterbank geweckt als vom Duschgesang meines Nachbarn.«
Die Frau drehte sich um und sah ihn an.
Mein Gott, war sie müde. Jakob zog einen zweiten Stuhl vor und klopfte auf die Sitzfläche. Die Frau drückte die Zigarette in einem mit Sand gefüllten Eimerchen aus, stieß sich von der Fensterbank ab und setzte sich Jakob gegenüber. Sie sah ihm in die Augen. Jakob sah zurück, ruhig und geduldig. Ihr Lidschlag war so langsam, daß er Sorge hatte, sie würde einschlafen. Aber jedes Mal, wenn die Augen sich wieder öffneten, sank er tiefer hinab.
»Ich bin Hanna und wer bist Du?«, fragte die Frau.
Jakob versuchte, die Wasseroberfläche zu erreichen. Als er sich aus ihren Augen gelöst hatte, tanzten Funken um ihre Haare. Eine Perle kullerte den langen Hals hinab, zögerte unentschlossen am Schlüsselbein, sprang dann ab und landete hüpfend auf dem Linoleumboden.
»Ich bin der Märchenprinz«, hörte Jakob sich sagen.
»Du hast mich lange warten lassen, Prinz. Meine Mutter hat mir erzählt, Du kommst auf einem Klepper, wo ist er?«
»Wartet draußen, er wollte nicht mit ins Krankenhaus.«
»Kluger Gaul, auf den solltest Du hören, wenn es mal Diskussionen wegen der eingeschlagenen Richtung gibt.« Sie stand auf, strich sich über den von Spuren ihrer Schlacht übersäten Kittel, entfernte das Namensschild vom Revers und steckte es in ihre Hosentasche. Sie zog den Kittel aus und legte ihn über den Stuhlrücken. »Laß uns gehen, da draußen gibt es im Februar nicht genug Gras für Prinzenpferde«
Jakob hätte ihren Fingern eine Zigarette gewünscht, verloren taumelten sie durch den Raum. Er sah, wie sie zu einem Schrank ging, einen Mantel vom Bügel streifte, sah ihre Finger Knöpfe öffnen und schließen und wollte nie wieder etwas anderes sehen. Sternschnuppen trudelten aus ihrem Haar, verteilten sich gleichmäßig auf den Schultern. Er versuchte sich an das Ende von Sterntaler zu erinnern, aber es fiel ihm nicht ein. Hanna sah sich langsam im Raum um, als wollte sie alles in ihre Erinnerung einbrennen, nahm den Christstern vom Tisch und sah aus dem geöffneten Fenster. »Ob es trocken bleibt?«
»Es riecht nach Schnee«, sagte Jakob.
Sie schloß mit einer Hand das Fenster, drehte sich zu Jakob um und nickte. Er stand auf und ging voran. Oskar war auf seinem Stuhl eingenickt. Er schreckte hoch, als die beiden durch die Tür kamen. Jakob schüttelte den Kopf und verließ langsam durch die Hindernisse steigend mit Hanna die Station, das Krankenhaus und das Gelände.
Für Oskar blieb der Rest. Er seufzte, rief Dr. P. Fatzke herbei, verkündete das Ende der direkten Lebensbedrohung, forderte ihn auf, für ein Protokoll auf dem Abschnitt zu erscheinen, fragte, ob er Anzeige erstatten wolle, was der Doktor entsetzt verneinte, schloß nach zwei Stunden gähnend seinen Wagen auf und fuhr zurück zum Abschnitt.
Anzeige erstattete schließlich der Verwaltungschef der Klinik, wegen Sachbeschädigung, Körperverletzung und versuchten Mordes. Da er schon mal dabei war, schloß er eine fristlose Kündigung an, alarmierte die Ärztekammer und forderte den Approbationsentzug.
Gegen Mittag kam ein übermüdeter Trupp Kriminalbeamter, ließ sich die Ortschaften zeigen, nahm Hannas Opfer in Augenschein, machte Photos, vermaß und tütete Proben ein. Nach einer Stunde zogen sie wieder los und antworteten auf die Fragen des erregten Verwaltungschefs, wann die Täterin mit Konsequenzen zu rechnen hätte, mit einem routinierten Achselzucken.
Als der Verwaltungschef die Station verließ, begegnete er einem Boten, der eine Krankschreibung der Furie vorbeibrachte, was ihn so wütend machte, daß er das Schreiben in kleine Schnipsel zerriß und sie auf das leuchtend blau unterlegte Chaos niedersinken ließ. Der Bote bestand kaugummikauend auf einer Unterschrift, die den Erhalt des Schreibens bestätigte, der Klinikchef gab sie ihm fluchend.
Oskar erfuhr von all dem nichts. Bei seiner Rückkehr zum Abschnitt wurde er zum nächsten Einsatz geschickt. Ein Mann drohte mit einer Handgranate bewaffnet abwechselnd sich und die Schaulustigen in die Luft zu sprengen. Das war nun wieder Oskars Kaliber. Jakob, den er verständigt und auf halber Strecke aufgelesen hatte, blieb im Wagen, wirkte allerdings auch etwas derangiert.
Als sieben Stunden später ihre Schicht endete, waren sie zu müde, um über die schöne Furie zu sprechen. Oskar schrieb das Protokoll über den Handgranatenirren – sie hatte sich als Attrappe entpuppt, als sich der Mann eine Zigarette damit anzündete. Sein anschließendes verspanntes Gelächter hatte von den Kollegen einen ganzen Blumenkübel voll Affektkontrolle gefordert –, setzte Jakob an der U-Bahn ab und kutschte ohne Umwege in sein Bett.
Jakob kehrte zurück, von wo er sieben Stunden zuvor aufgebrochen war. Wehrlos hatte Hanna sich in ihre Wohnung bringen und Tee einflößen lassen. Jakob hatte versprochen, nach Dienstende zurückzukommen. Als er die letzte Treppe nahm, kauerte sie in der Wohnungstür, als hätte sie auf ihn gewartet.
II
An manchen Tagen hätte man einfach liegenbleiben sollen. Im Nachhinein. Wäre Jakob an diesem Tag nicht aufgestanden, wäre er nicht gefallen. Aber selbst wenn, was hätte es genützt, das Schicksal läßt sich nicht austricksen, es kann warten, Zeit ist nicht sein Problem.
Aufstehen