Attentat Unter den Linden. Uwe Schimunek

Attentat Unter den Linden - Uwe Schimunek


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Es schüttelte die Mähne, wich in die Ecke zurück und schnaufte. Kirchner schaute über die Planke, die Kammer bot genug Platz für zwei Pferde. In der freien Ecke stand eine Tränke. Er beobachtete das schnaubende Pferd im Augenwinkel und beugte sich über die Bretter. Die Tränke war leer, der Boden mit Stroh bedeckt. Und in dem Stroh ein paar Stiefel. Und Hosen. Uniformhosen. Eine ganze Uniform voller Blut! Ein Mann! Mehr konnte Kirchner für den Moment nicht erkennen. Der Kopf sah aus wie eine blutige Masse. Haarsträhnen glänzten im Schleim. Ob das neben dem rechten Ellenbogen ein Auge war, wollte Kirchner lieber nicht wissen.

      Er öffnete die Planke und betrat vorsichtig die Kammer. Der Araber schnaufte unruhig, blieb aber in der Ecke stehen. Kirchner sagte mit tiefer Stimme: »Ist gut, Schwarzer, ist gut.« Er ging auf das Pferd zu, griff nach dem Zügel und machte das Tier an der Wand fest.

      Dann betrachtete Kirchner den Leblosen. Die Glieder des Mannes lagen in grotesker Weise verquer - als hätte jemand eine Marionette mit Wucht auf den Boden geworfen und zertreten. Diese Figur … Kirchner überlegte. Woher kannte er diesen Mann? Der Kragenspiegel der Uniform verriet, dass es sich um jemanden von der Artillerieschule handelte, an der Kirchner in diesem Jahr sein Studium absolvierte. Ein Oberst-Lieutenant dem Rangabzeichen nach. Davon gab es unter den Lehrern nur zwei …

      Neben der Schulter des Leblosen lag eine Pistole im Unrat. Kirchner hob die Waffe auf.

      »Mein Herr …«

      Kirchner blickte auf, der Stallmeister stand in der Tür und betrachtete ihn und die Leiche am Boden.

      »Sie wurden neben dem Leichnam im Stall angetroffen.« Kirchner überlegte, ob das eine Frage war. Es klang eher wie ein Vorwurf. So, als ob es dem Criminal-Commissarius um die Zeit leidtue, die er mit diesem Verhör verbringen musste. Der Beamte war kleiner als Kirchner und schien trotzdem auf ihn herabzublicken. Als er sich vorstellte, hatte Kirchner den Namen nicht recht verstanden: Wurzel, Erpel oder so. Hamster hätte besser gepasst. Über den Pausbacken lauerten kleine Augen.

      Sie saßen in einer Kammer, die der Stallmeister ihnen zugewiesen hatte. Keine Fenster, die Wände grau wie Asche und kahl wie Bäume im November. An Nägeln hing Zaumzeug, auf einem Brett lagen Reitpeitschen. Sie saßen hier allein um einen Tisch aus nacktem Holz, der Criminal-Commissarius und Kirchner. Allerdings schien klar, dass jeglicher Fluchtversuch zwecklos sein würde. Sicher standen alle Bediensteten des Neuen Marstalls vor der Türe und lauschten.

      Kirchner sagte: »Ich habe den Toten gefunden.«

      Der Criminal-Commissarius setzte eine amtliche Miene auf und blaffte: »Name?«

      »Ich bin nicht sicher, wer der Tote ist. Auch wenn ich ihn zu kennen meine.«

      »Machen Sie sich über mich lustig?«

      Offenbar sah der Criminal-Commissarius ihm an, dass er die Frage falsch verstanden hatte, denn er sagte schroff:

      »In Herrgotts Namen, wie Sie heißen, will ich wissen.«

      »Kirchner, Adalbert Kirchner.«

      »Geboren.«

      »12. Januar 1815. In Reichenbach im Eulengebirge.«

      »Schlesier …«

      Was sollte Kirchner sagen? Ja, er war Schlesier. Schlesien gehörte zu Preußen. Was also bezweckte der Criminalbeamte mit seinem Einwurf?

      »Abkommandiert in die Residenz?«

      »Ich belege an der Artillerie- und Ingenieurschule ein Studium der Physik.«

      »Physik?«

      »Ich beschäftige mich vor allem mit der Optik. Mit den Eigenschaften von Linsen.«

      »Linsen …« Der Criminal-Commissarius sah aus, als habe er keinen Appetit auf Hülsenfrüchte.

      »Refraktoren …«

      »Ja, ja.« Der Criminalbeamte winkte ab. »Genug damit. Jetzt erklären Sie mir, was es mit dem Tod des Herrn Oberst-Lieutenant von Streyth auf sich hat.« Der Commissarius betonte den Rang des Toten, als handle es sich bei dessen Ableben um eine bedeutende Staatsaffäre.

      »Der Herr Oberst-Lieutenant von Streyth …« Triumphierend fuhr der Criminal-Commissarius auf.

      »Sie kennen das Opfer also! Das geben Sie zu.«

      »Er gehört dem Lehrkörper an.«

      »Ha!« Der Polizist klopfte auf den Tisch. Er sah aus, als sei die Befragung damit weitgehend abgeschlossen.

      In der Tat erschien Kirchner die eigene Lage nicht vorteilhaft. Mit einer Pistole in der Hand neben einer Leiche angetroffen zu werden war schlimm genug. Und nun kannte er das Opfer auch noch. Ausgerechnet Aemilius von Elster, genannt von Streyth, dieser Grobian, gleichermaßen verabscheut von den Studenten wie den Lehrkräften, musste der Tote sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Criminal-Commissarius herausfinden würde, dass von Streyth in einem fort über die naturwissenschaftliche Ausbildung an der Artillerie- und Ingenieurschule gelästert hatte.

      »Aber ich …«, begehrte Kirchner auf.

      Der Criminal-Commissarius beugte sich vor und starrte ihn so grimmig an wie ein Raubtier. »Ja?« Das klang schon wieder nicht wie eine Frage.

      »Ich wollte nur ausreiten. Ich bin in den Stall gekommen und habe die Schreie gehört. Und dann bin ich losgelaufen … Ich wollte helfen!«

      »Und dafür hielten Sie eine Pistole in der Hand.«

      »Die Waffe lag am Boden neben der Leiche. Ich habe sie nur aufgehoben … und untersuchen wollen.«

      Der Criminal-Commissarius schüttelte den Kopf. »Also gut …« Er machte eine lange Pause, blickte Kirchner lauernd an und schüttelte noch einmal den Kopf. Schließlich sagte er: »Fangen wir von vorn an. Sie wollten also reiten. Ihr Pferd steht hier im Neuen Marstall?«

      »Also… nein … Ich wollte mit dem Pferd eines Freundes ausreiten.«

      »Name?«

      »Der meines Freundes?«

      Der Criminal-Commissarius guckte, als wolle er Kirchner mit seinem Blick in den Boden stampfen, und schwieg.

      »Pragenau. Von Pragenau. Bernward.«

      »Der Sohn des Herrn Oberst Hermann von Pragenau?«

      »Jawohl, das ist er. Und ich teile ein Zimmer in der Kaserne mit ihm.«

      Der Criminalbeamte schaute etwas weniger grimmig - oder kam Kirchner das nur so vor? Pragenaus Name machte allemal Eindruck. Ein wenig erleichtert fuhr er fort: »Bernward ist ganz froh, dass ich hin und wieder mit seinem Pferd in den Thiergarten reite. Die militärische Ausbildung fordert ihn sehr. Und Grani braucht die Bewegung.«

      »Grani …«

      »So heißt Bernwards Pferd.«

      Der Criminal-Commissarius senkte den Kopf, als hoffe er, aus einem anderen Blickwinkel Kirchners Gedanken lesen zu können. »Also zurück zur Leiche. Sie haben die Schreie gehört und sind losgelaufen. Einfach so? Woher wussten Sie denn, an welcher Stelle die Tat geschah?«

      »Ich wusste es nicht. Ich lief in Richtung des Lärms. Dann wurde es wieder ruhiger, und ich habe gesucht, habe in die einzelnen Kammern geschaut, bis ich … das Unheil entdeckt habe.«

      Der Criminalbeamte sah nicht aus, als glaube er ihm auch nur ein Wort. Er winkte ab und sagte: »Das klingt mir alles sehr zufällig. Ich denke mal, ich nehme Sie jetzt mit und lasse Sie ein paar Tage in der Stadtvogtei am Molkenmarkt zu Sinnen kommen. Und dann unterhalten wir uns noch einmal ganz in Ruhe über die Pistole in Ihrer Hand, Herr Kirchner.« Mit einem weiteren Kopfschütteln stand der Criminal-Commissarius auf.

      Die Tür quietschte. Im Rahmen drehte der Criminalbeamte sich noch einmal um und betrachtete Kirchner, immer noch kopfschüttelnd. Es sah aus, als habe der Criminal-Commissarius Mitleid mit einem Delinquenten auf dem direkten Wege zum Henker.

      Die Tür fiel ins Schloss, der Schlag dröhnte in Kirchners Ohren.


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