Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky

Berliner Leichenschau - Horst Bosetzky


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was geschrieben hat, um aber jeglichen Zweifel auszuräumen, sind die einzelnen Teile durch Sternchenzeilen abgetrennt.

      Gunther Geserick und ich hoffen, dass Sie beim Lesen dieselbe Freude und dasselbe hohe Maß an Erkenntnisgewinn haben wie wir beide beim Schreiben.

       Krampenburg

      Peter Reinhalter hatte über vierzig Jahre lang in verschiedenen Berliner Finanzämtern Einkommensteuerbescheide bearbeitet und Tag für Tag von seinem Ruhestand geträumt. Nun war er Pensionär und konnte sich voll und ganz seiner großen Leidenschaft widmen: dem Wassersport. Was hatte er die Bücher von Herbert Rittlinger verschlungen! Der war mit seinem Faltboot auf der Rhône, der Drau, dem Euphrat und sogar auf dem Amazonas unterwegs gewesen. Reinhalter hingegen musste sich mit der Spree, der Dahme und dem Gosener Graben begnügen. Aber das Glück war auch hier zu Hause – und ertrinken konnte man hier genauso, wenn man nicht Obacht gab. Er war schon immer ein schlechter Schwimmer gewesen, doch als alter Seefahrer eine Schwimmweste umzubinden, empfand er als peinlich. Was hätten seine Enkel da gelästert! Um ihn zu warnen, erzählte seine Frau ihm immer wieder die Geschichte von einem Paddlerfreund, der wie einst Rittlinger alle wichtigen Flüsse der Welt befahren hatte, dazu die deutschen Boddengewässer und die halbe Ostsee – und der dann auf einem Dorfteich in Mecklenburg gekentert und ertrunken war. Nun, ihm würde das bestimmt nicht passieren!

      Gemächlich paddelte er am Seddinwall vorbei, sah dann links die Gosener Berge, auf deren Gipfel früher eine Warte gestanden hatte und in deren Tiefen sich Markus Wolf einen Bunker hatte bauen lassen, der auch einer Atombombe widerstanden hätte – so hieß es jedenfalls. Ein Stückchen dahinter lag der endlose Schlauch des Oder-Spree-Kanals. Vor Reinhalter tauchten die beiden Inselchen auf, die Schmöckwitz von Seddinsee abschirmten, und er entschied sich, vom Seddinsee rechts in den Langen See einzubiegen, die Verbreiterung der Dahme. Nach einigen Paddelschlägen kam Krampenburg in Sicht, eine Halbinsel auf der Landzunge zwischen der Großen Krampe und dem Langen See. Gegenüber lag Schmöckwitz, mit dem Krampenburg durch eine Fähre verbunden war.

      Müde vom stundenlangen Paddeln, ließ Peter Reinhalter sein altes Pouch-Faltboot mit dem Heck voran in den ansehnlichen Schilfgürtel gleiten. Das war zwar aus Gründen des Umweltschutzes verboten, doch er liebte es, seinen »Binsenbummler« auf diese Art zu parken, denn die Halme hielten das kipplige Gefährt so fest, als steckte es in einer Schraubzwinge. So konnte er sich lang ausstrecken, um zu dösen und zu träumen. Die paar Schrammen an der blauen Gummihaut, die dadurch entstanden, nahm er billigend in Kauf. Er war gerade dabei sich auszustrecken, als ein Schrei ihn hochfahren ließ.

      »Hilfe, mich zieht jemand unter Wasser!«

      Reinhalter griff sofort nach seinem Paddel, doch es vergingen einige Sekunden, ehe er sein Boot aus der Umklammerung des Schilfs befreit hatte. Sein Blick ging zu den beiden kleinen langgestreckten Inseln hinüber, die Schmöckwitz vorgelagert waren und die Namen Weidenwall und Werderchen trugen. Von Werderchens Spitze musste der Schrei gekommen sein. Seltsamerweise standen nirgendwo am Ufer Menschen, um Ausschau zu halten, weder auf den Grundstücken und vielen Stegen in Schmöckwitz noch am bewaldeten Ufer auf seiner Seite, also zur Gosener Landstraße hin, wo viele Zelte standen. Da sollte niemand etwas gehört haben? Reinhalter griff nach seinem Handy, zögerte aber noch, die Notrufnummer zu wählen. War er eben eingedöst und hatte nur geträumt, es würde jemand um Hilfe rufen? Er sah sich um. Nirgends gab es Kreise auf dem Wasser, und im Umkreis von gut zweihundert Metern war kein Sportboot zu sehen. Er gab sich einen Ruck. Nein, er war kein Spinner und hatte sicherlich keine Halluzinationen, er war ein durch und durch rationaler Mensch – und absolut nüchtern war er auch. Also wählte er die 110.

      Gunnar Granow, 49, seines Zeichens Erster Kriminalhauptkommissar bei einer der acht Berliner Mordkommissionen, hatte als einfacher Schutzpolizist angefangen, war seinen Vorgesetzten durch besondere Leistungen, aber auch durch seine Aktivitäten in der Polizeigewerkschaft immer wieder aufgefallen und von ihnen zum Studium an die Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, der heutigen Hochschule für Wirtschaft und Recht, geschickt worden, nachdem er sein Abitur an der Abendschule nachgeholt hatte. Er war stolz auf seine Lebensleistung und wollte gern zum Berliner Bildungsbürgertum gezählt werden. Er las viel, wobei die deutsche Geschichte sein Spezialgebiet war, und ging regelmäßig in die Oper oder ins Schauspiel, weil das ungemein schmückte. Er war verheiratet, hatte drei Kinder mittleren Alters und drückte sich gern vor deren Erziehung und jeder anfallenden Hausarbeit. Da seine Frau als Grundschullehrerin bis auf die Jahre des Mutterschutzes auch immer gut verdient hatte, waren sie vor einigen Jahren in der Lage gewesen, sich ein Reihenhaus in Kladow zu kaufen. Ihre Straße hieß An der Bastion, was Granow in seiner Preußenbegeisterung recht passend fand.

      Wenn einmal nicht so viel zu tun war, wie heute etwa, las er am liebsten historische Kriminalromane – bevorzugt aus den Serien »Es geschah in Berlin« und »Es geschah in Preußen« –, wobei er die Taschenbücher jeweils aufgeschlagen in seiner Schreibtischschublade liegen hatte. Kam jemand zur Tür herein, konnte er sie schnell mit dem Bauch zudrücken, ohne dass derjenige etwas mitbekam. Fast alle Kolleginnen und Kollegen mochten keine Kriminalromane. Die waren ihnen zu wirklichkeitsfremd.

      Gunnar Granow gegenüber saß die Kriminalassistentin Theresa Marotzke, 29 Jahre alt, blitzgescheit und geborene Neuköllnerin, was nicht zu überhören war. Allerdings beherrschte sie das meisterlich, was Soziologen code switching nannten, das heißt, sie konnte übergangslos vom restringierten in den elaborierten Code wechseln, also am Anfang eines Gesprächs furchtbar berlinern, um wenig später ein geradezu lupenreines Hochdeutsch zu sprechen. Vor einiger Zeit war sie wegen ihrer Lebensgefährtin nach Marzahn gezogen. Beide spielten Fußball beim 1. FC Neukölln. Theresa studierte gerade den Kicker.

      Das Telefon klingelte, und sie seufzten laut ob dieser unverschämten Störung des Dienstbetriebes. Am Apparat war der Koordinator der Berliner Mordkommissionen.

      »Setzt euch mal in Bewegung! In Schmöckwitz ist der Teufel los.«

      »Wie, brennt’s mal wieder im Reifenwerk?«

      »Nein, drüben in Krampenburg könnte einer ertrunken worden sein.«

      Granow staunte. »Wie sollte das denn gehen?«

      »Ein Paddler hat angerufen, und der will einen Schrei gehört haben: Hilfe, mich zieht jemand unter Wasser!«

      »Wohl der weiße Hai von Schmöckwitz!«, spottete Granow. »Oder war es doch das Ungeheuer von Loch Ness, das schnell mal zu uns nach Berlin geschwommen ist?«

      »Ist ja gut!«, erwiderte der Kollege und erzählte ihm dann alles, was er wusste. »Gefunden hat man noch niemanden, aber die Feuerwehr ist da, und Taucher suchen alles ab. Fahrt so schnell wie möglich hin! An der Schmöckwitzer Brücke wartet ein Boot der Wasserschutzpolizei auf euch und bringt euch rüber.«

      Da es an einem Werktag zur Hauptverkehrszeit nicht ratsam war, von der Keithstraße mit dem Auto nach Schmöckwitz zu fahren, weil man auf den rund dreißig Kilometern nur von einem Stau in den anderen kam und spätestens auf dem Adlergestell in Gefahr geriet, Amok zu laufen, parkten Granow und seine Kollegin Marotzke ihren Wagen am Bahnhof Tiergarten und stiegen dort in die S-Bahn. Da es im Juli keine vereisten Weichen gab und zufällig auch nirgendwo der Strom ausgefallen war, erreichten sie nach 42 Minuten planmäßig den Bahnhof Grünau, wo sie in die Straßenbahn nach Schmöckwitz umstiegen. Die 68 galt als attraktivste Linie Berlins, und die Kommissare genossen den Ausblick auf den Langen See und die Müggelberge.

      »Sightseeing im Dienst«, sagte Granow. »Wenn man uns dieses Vergnügen nur nicht vom Gehalt abzieht!«

      In Schmöckwitz mussten sie von der Endhaltestelle der 68 bis zur Brücke nur ein paar hundert Meter laufen.

      Schwärmend zitierte Granow ein paar Zeilen von Theodor Fontane:

       Am Waldessaume träumt die Föhre, Am Himmel weiße Wölkchen nur; Es ist so still, dass ich sie höre, Die tiefe Stille der Natur.

      »Abgesehen von den Lastwagen hier auf der Straße und den lärmenden Flugzeugen, die von Schönefeld kommen …«, fügte Theresa


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