Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky
Polizeiboot und brachte sie nach 44 hinüber. Das war die Landzunge zwischen dem Langen und dem Seddinsee, die bei den Einheimischen so genannt wurde, weil hier die Tafel stand, die anzeigte, dass die Wasser der Dahme von ihrem Anfang bis zu dieser Stelle bereits 44 Kilometer zurückgelegt hatten.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr begrüßte sie, konnte aber nur vermelden, dass man trotz aller Bemühungen noch niemanden gefunden habe.
»Und wo ist der Mann, der den Schrei gehört haben will?«, wollte Granow wissen. »Es ist der ältere Herr dort mit dem Faltboot. Reinhalter heißt er.«
Sie ließen sich von Peter Reinhalter erzählen, was er gehört hatte. Sein Bericht klang etwas merkwürdig, und sie gaben sich auch keine Mühe, ihre Skepsis zu verbergen.
Reinhalter zeigte sich leicht gekränkt. »Ich bin Beamter, das sollte Ihnen alles sagen. Und ich lese weder Kriminalromane, noch schreibe ich selber welche«, gab er zu Protokoll.
Granow lächelte. »Aber es gilt nun mal die alte Weisheit: Ohne Leiche kein Mord.«
Vom Spielplatz der Zeltstadt drang Kindergeschrei zu ihnen herüber. Theresa Marotzke fixierte Reinhalter. »Und Sie meinen nicht, dass die lieben Kleinen da Weißer Hai gespielt haben könnten?«
Der Finanzbeamte schüttelte den Kopf. »Nein, es war eine Männerstimme.«
»Es könnte ein Vater gewesen sein«, gab Granow zu bedenken. »Einer, der hier draußen mit seiner Familie Urlaub macht.«
»Ich habe aber keine Familie baden sehen, als ich aus dem Schilf raus bin.« Reinhalter blieb bei seiner Version.
Granows Handy dudelte. Es war abermals der Leiter der Berliner Mordkommissionen. »Eben hat mich die Vorsitzende des Ortsvereins Schmöckwitz angerufen – und weißt du, was die mir erzählt hat?«
»Nein, wie denn? Ich bin nicht vom Verfassungsschutz, ich höre nicht mit, wenn du telefonierst«, feixte Granow.
»Sie sagt, dass es in diesem und im letzten Sommer eine Reihe von Badeunfällen in und um Schmöckwitz gegeben hat, in der Großen Krampe, im Langen, im Zeuthener und im Seddinsee. Daraufhin habe ich bei der Zeitung angerufen. Das Ergebnis: Bislang sind drei Männer und zwei Frauen mit einem plötzlichen Aufschrei im Wasser versunken und Tage später tot am Ufer aufgefunden worden. Als Ursachen für ihr Ertrinken wurden genannt: überhitzt und nach üppiger Mahlzeit ins Wasser gegangen, Kreislaufschwäche, plötzliche Unterzuckerung und Überschätzung der Schwimmkünste.«
»Da siehst du mal«, sagte Granow, »nicht nur Rauchen kann tödlich sein!« Er beendete das Gespräch und berichtete seiner Kollegin von dem, was er eben gehört hatte.
»Dann fragen wir doch mal die Leute, die hier zelten, ob sie was gehört oder gesehen haben!«, entgegnete Theresa Marotzke eifrig.
Granow hatte keine Lust auf diesen kleinen Spaziergang, viel lieber wäre er zu Reinhalter ins Boot gestiegen und hätte sich ein wenig durch die Gegend paddeln lassen. Immer auf der Suche nach der Wasserleiche natürlich. Aber Theresa allein losziehen zu lassen, brachte er nicht über sich. Also machten sie sich gemeinsam auf den Weg und fragten alle, die sich unter ihren Vorzelten blicken ließen. Doch niemandem war etwas aufgefallen. Allerdings standen ihre Stoffdatschen auch nicht direkt am Wasser.
Keiner der Urlauber schien sich sonderlich für ihr Problem zu interessieren, und auch keiner machte den Eindruck, als würden ihm Berichte von Menschen, die in dieser Gegend rätselhaft ertrunken waren, Angst machen. Einige der Befragten machten sich sogar noch lustig über sie, so etwa ein Student, der das studierte, was früher Volkskunde hieß, und gerade dabei war, für seinen Bachelor eine Arbeit über Aberglauben zu schreiben. »Vielleicht war da ein Hakenmann am Werke«, erklärte er Granow.
»Ein was?«
»Ein Hakenmann. Ich habe im Rahmen meiner Arbeit ein Referat über Wassergeister gehalten, über den Nix, die Muhme und den Hakenmann, die ihre Opfer auf den Grund von Seen und Flüssen reißen und sie dort in ihren Wohnungen gefangen halten.«
Granow und Theresa Marotzke bedankten sich für diese Nachhilfestunde in angewandter Ethnologie und machten sich auf den Rückweg zum Hauptquartier der Rettungskräfte. Als sie dort ankamen, war immer noch kein Ertrunkener gefunden worden, und so wagte es Granow nun, Reinhalter wegen einer kleinen Bootstour anzusprechen. »Ich war früher selbst mal Paddler und würde mir gern für ein halbes Stündchen Ihr Boot ausleihen, um mich auf dem Wasser umzusehen.«
»Ick bin dabei!«, rief Theresa Marotzke.
Reinhalter hatte zwar ein wenig Angst, dass sie sein Gefährt beschädigen könnten, ließ sich dann aber doch erweichen. So legten sie ab, Theresa Marotzke vorn im Boot, Granow hinten. Und als echter Kavalier schwang nur er das Paddel, während sie sich zurücklehnen und die milde Abendsonne genießen konnte.
»Links haben wir die Kleine Krampe«, sagte Granow, nachdem sie ein paar hundert Meter dahingeglitten waren. »Das ist die kleine Schwester der Großen Krampe.«
»Ich sehe nichts.«
»Das kannst du auch gar nicht, denn die Kleine Krampe ist nach dem Krieg zugeschüttet worden – mit Trümmerschutt.«
»Achtung«, rief Theresa Marotzke plötzlich, »vor uns treibt wat im Wasser!«
»Das wird der Ertrunkene sein!« Doch es war lediglich der Rest eines Schlauchbootes.
»Hier fließt allet Richtung Innenstadt«, sagte die Kriminalassistentin. »Wenn wirklich eener ertrunken sein sollte, dann wird der doch eher in Grünau anlanden als hier.«
»Vielleicht hat er sich an einer Schiffsschraube verfangen«, wandte Granow ein. »Ab und zu kommt ja auch heute noch ein Ausflugsdampfer hier vorbei und fährt Richtung Gosener Kanal und Dämeritzsee.«
»Wie ooch imma, det is ’n schöna Ausflug heute!«, erwiderte Theresa Marotzke und schloss zufrieden die Augen.
Als sie auf Höhe des Seddinwalls angekommen waren, wendete Granow und paddelte zur Landzunge 44 zurück. Schon in einiger Entfernung hörten sie, dass es dort inzwischen hoch hergehen musste.
»Sie werden den Gesuchten gefunden haben«, sagte Granow.
Und so war es dann auch. Als sie aus dem Faltboot kletterten, sahen sie den Notarzt neben einem Mann von etwa fünfzig Jahren knien, der nur mit einer Badehose bekleidet war. Eingefunden hatte sich schon eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft, die wunderbare Frau Dr. Monique Müller-Linthe. Wer jetzt noch fehlte, war der Rechtsmediziner Prof. Dr. med. Robert Schwarz. Therersa Marotzke griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer des geschätzten Kollegen.
***
Prof. Schwarz hatte sich eigentlich auf einige schöne Urlaubstage bei dem herrlichen Sommerwetter gefreut. Es waren Semesterferien, von denen er auch eine Woche für sich nutzen wollte. Endlich müsste er mal nicht um sechs Uhr aufstehen und mit der Autolawine eine gute Stunde vom beschaulichen Wendenschloss nach Mitte zur Charité in sein Institut fahren. Als er am Telefon die muntere Stimme der Kommissarin Marotzke hörte, legte er sein Buch beiseite und kletterte aus dem Liegestuhl. Wenn die 4. Mordkommission anrief, wurde er gebraucht. Den Ansatz zu einem brummigen Hinweis auf seinen Urlaub verschluckte er, weil die Marotzke ungefragt erklärt hatte, dass sein Oberarzt doch zu einer Tagung und die diensthabende Rechtsmedizinerin Frau Dr. Schöneberg in der Kinderklinik bei einem misshandelten Kind sei. »Kann ich nicht gleich über Müggelheim zur Krampenburg fahren?«, fragte Prof. Schwarz, aber die Kommissarin empfahl ihm die Anfahrt über Köpenick und Adlergestell bis zur Fähre in Schmöckwitz. Dort würde er an der Anlegestelle erwartet. Also vertröstete Schwarz seine Frau auf den Abend, griff nach seinem Einsatzkoffer und machte sich auf den Weg. Eine knappe Stunde später war er am Ziel und ließ sich auf dem Polizeiboot von der Kommissarin über die bisherigen Erkenntnisse informieren. Offenbar handelte es sich um einen frischen Leichnam, also würde er heute ohne odor mortis, den fürchterlichen Fäulnisduft in Kleidung und Haaren, nach Hause kommen.
Am Bergungsort hatte man den kleinen Strandabschnitt abgesperrt und den Toten mit einer Plane bedeckt.
Schwarz