Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky
»Sag mal, das müsste dich doch an etwas erinnern …«
»Dass ich mal mit dem Rad hinter einer Joggerin hergefahren bin?« Er lachte. »Aber das war meine Frau. Und die hatte damals Angst, dass sie auch …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief: »Mensch, die ermordete Joggerin im Spandauer Forst!« Am 20. Juni 2009 war eine 39-jährige Psychologin von einem Mann ermordet worden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einem roten Fahrrad unterwegs gewesen war. Bis heute hatte man den Mann nicht finden können.
Während sie noch über diesen Mordfall und mögliche Parallelen diskutierten, kam der zweite Anruf.
»Mein Name ist Jocelyn Naumann«, sagte die Frau am Apparat. »Ich bin die Schwester von Verena Löwe, die vom Blitz erschlagen worden sein soll. Ich möchte zu der Angelegenheit eine wichtige Aussage machen.«
»Bitte, ich höre …«
»Verstehen Sie, ich möchte nichts sagen, wenn jemand mithören kann. Kommen Sie doch bitte zu mir nach Hause!« Sie nannte noch ihre Adresse, dann legte sie auf.
Granow rang eine Weile mit sich. Was ging ihn die Sache eigentlich an? Das roch doch alles nur nach Wichtigtuerei. Aber auf der anderen Seite sagte ihm sein Gefühl, dass da womöglich doch nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er sah seine junge Assistentin an. »Komm, fahren wir mal schnell zum Ku’damm!«
Theresa Marotzke verzog das Gesicht. »Wenn’s unbedingt sein muss …« Als geborene Neuköllnerin fühlte sie sich am Kurfürstendamm nicht sonderlich wohl. Hier wohnten Menschen, die ein Vielfaches mehr verdienten als sie und sich oft für etwas Besseres zu halten schienen.
Beide trugen sie der Armut des Landes Berlin Rechnung, indem sie auf ein dienstliches Fahrzeug verzichteten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Tatorten und Vernehmungen fuhren. Früher hatten sie sich noch Freifahrscheine geben lassen, jetzt nutzten sie ihre privaten Monatskarten. So stiegen sie am S-Bahnhof Halensee aus, um von dort über die Westfälische Straße zur Joachim-Friedrich-Straße zu gelangen, wo nahe dem Kurfürstendamm die Schwester der Löwe wohnen sollte.
Der Hauseingang wirkte so feudal, dass sich Granow an das alte Berliner Stadtschloss erinnert fühlte. Sie stiegen die vornehme Treppe hinauf und klingelten bei Jocelyn Naumann.
Eine verhutzelt aussehende Frau öffnete ihnen sogleich die Tür. Frau Naumann wirkte recht verbittert – warum, sickerte in dem Gespräch mit den Beamten bald durch: Sie hatte stets im Schatten ihrer erfolgreichen Schwester gestanden. Ihre Gedichtbände waren weithin unbeachtet geblieben, den letzten hatte sie sogar selbst finanzieren müssen.
Granow brachte das Gespräch auf ihre verstorbene Schwester und deren Ehemann. »Leonhard Löwe ist Makler?«
»Ja, und er hat mit seiner Firma eine Menge Geld gemacht. Aber in letzter Zeit ist sein Geschäft nicht mehr gut gelaufen, doch er hatte eine Menge Ausgaben – für seine Yacht, für seine teuren Autos, für seine noch teureren Geliebten.«
»Und Ihre Schwester?«, fragte Theresa Marotzke.
»Sie wusste davon. Deshalb wollte sie sich auch scheiden lassen und hat Unterhaltszahlungen gefordert, die Leonhard in die Insolvenz getrieben hätten. Ich glaube, für ihn ist der Blitzschlag gerade zur rechten Zeit gekommen.«
Granow fixierte die Schwester der Toten. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht ausschließen, dass Leonhard Löwe ein wenig nachgeholfen hat?«
»Das ist Ihre Interpretation meiner Worte«, entgegnete Frau Naumann ausweichend. »Aber ich weiß, was Leonhard so treibt, und will deshalb Ihrem Gedanken nicht widersprechen.«
Als die Kommissare wieder auf der Straße standen, war für Granow klar, was jetzt zu tun war. »Wir müssen Professor Schwarz zu Rate ziehen, der soll sich die Leiche der Löwe mal genauer ansehen.«
***
Als die Mordkommission im Rechtsmedizinischen Institut anrief, stand Prof. Robert Schwarz gerade im Hörsaal. Die Vorlesung »Rechtsmedizin für Studierende der Rechtswissenschaft« gehörte zu seinen Lieblingsaufgaben. Die Studenten kamen gerne zu der fakultativen Vorlesung und waren entsprechend interessiert und diszipliniert. Auch das weibliche Dreigestirn war anwesend, und so ging ihm der Unterricht besonders leicht von der Hand. »Die drei Grazien«, wie er sie für sich nannte, saßen immer auf denselben Plätzen in der zweiten Reihe, waren auffallend hübsch und strahlten ihn an.
Eigentlich duldete Schwarz während seiner Vorlesung keinerlei Störung. Kriminalhauptkommissar Granow hatte aber die Sekretärin wohl so barsch angewiesen, dass sie seinem Drängen nachgab und in den Hörsaal lief. Dort legte sie ihrem Chef mit aufgeregten Gesten einen Zettel auf das Pult.
Schwarz unterbrach kurz die Vorlesung und studierte die Mitteilung. »Liebe Studentinnen und Studenten«, sagte er dann, »ich muss die Vorlesung leider vorzeitig abbrechen, denn ich habe hier eine dringende Anforderung von der Mordkommission. Jetzt gäbe es die praktische Anwendung des Gehörten, nur kann ich Sie leider zu der Untersuchung nicht mitnehmen. Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Doktor Krell wird ihnen noch die restlichen Folien zur Leichenschau zeigen. In der nächsten Woche fahren wir dann mit dem Thema Scheintod, lateinisch vita minima, fort. Bis dann!«
Schwarz schlürfte in der Kantine noch schnell eine Tasse Kaffee, griff seinen »Tatortkoffer« und fuhr dann mit seinem Wagen zum Krematorium Baumschulenweg. Er kannte es gut, hatte er doch dort in früheren Jahren die gesetzlich vorgeschriebene zweite Leichenschau vor der Kremation durchgeführt. Die Leiterin des Hauses hatte sein Institut vor einiger Zeit zu einer Besichtigung eingeladen, nachdem das Krematorium mit großem Aufwand neu erbaut worden war. Die Rechtsmediziner hatten damals ganz schön gestaunt und das alte Krematorium nach dem Einzug moderner Architektur kaum wiedererkannt. Auch die neueste Technik mit dem elektronischen Lager- und Transportsystem hatte die Mediziner beeindruckt.
Nun war er also wieder hier, um sich die Leiche eines Blitzschlagopfers anzuschauen. Ein Mitarbeiter des Krematoriums wartete bereits auf ihn und hatte den Leichnam der Verena Löwe bereitgestellt. Schwarz wunderte sich, warum die Leiche hier gelandet war, obwohl sie in der Nähe von Potsdam gefunden worden war. Aber vielleicht gibt es bei den Krematorien ja Preisunterschiede, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen, dachte er belustigt. Dann wandte er sich seiner Arbeit zu.
Die Tote lag in einem schlichten Holzsarg, wie es bei Feuerbestattungen üblich war. Sie war bereits entkleidet, ihre Kleidung lag zu einem Bündel zusammengepackt am Fußende des Sargs.
Prof. Schwarz zog rasch Kittel und Handschuhe an. Vor der Inspektion des Leichnams prüfte er die Identität. Die Beschriftung an Sarg und Zehenkarte lautete Löwe, Verena, Geburts- und Todestag stimmten mit dem Totenschein und seinen Angaben überein. Auf dem Totenschein war als Todesursache Blitzunfall vermerkt, und bei der Todesart war Natürlicher Tod angekreuzt. Da haben wir es wieder!, dachte Schwarz. Seit wann war ein Blitztod ein natürlicher Tod? Sicherlich stammte der Blitz aus der natürlichen Umwelt – »natürlich« aber war nur der Tod aus innerer krankhafter Ursache. Aus seinen langjährigen Lehrerfahrungen wusste Schwarz, dass dies eher Kriminalisten und Juristen klarzumachen war als Medizinern. Darüber hatte es auch mit Kollegen aus Kliniken wie aus Pathologischen Instituten schon manche Debatte gegeben. Bei der Einordnung eines Todesfalls als natürlicher Tod war von dem Leichenschauarzt keine Meldung an die Polizei erforderlich, und so war die Tote von dem Bestatter abgeholt und ins Krematorium gebracht worden.
»So«, murmelte Schwarz, »wo sind denn nun die Spuren des Blitzschlags?« Als Erstes nahm er sich die Kleidung und die Joggingschuhe vor und suchte nach Zerreißungen, Verbrennungen oder Durchlöcherungen – doch er fand nichts Auffälliges. Er vermerkte auch, dass die Kleidung nicht durchfeuchtet war. Sorgfältig inspizierte er Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, wobei ihm der Krematoriumsmitarbeiter beim Umwenden der Toten half. Das Kopfhaar war blutig durchtränkt und das gesamte Gesicht stark blutverschmiert. An der rechten Hinterkopfseite fand sich eine grobe, blutige Platzwunde. Darunter ertastete Schwarz Knochenbruchstücke, die zum Teil tief in das Gehirn hineingetrieben waren. »Hier haben wir wohl die Todesursache«, schlussfolgerte Schwarz.
Dann untersuchte er weiter Haut und Schleimhäute des Gesichts, besonders