Stiefmütterchen Ost und Königskerze West. Jott H. Wangerin
erst einmal aufs Klo, sonst passiert es unterwegs. Gründliche Wäsche mit geringem Erfolg, der Spiegel war auch schon mal besser, aber die Zähne sind fast alle noch da, nur die Haare wachsen inzwischen an den falschen Stellen. Es dauert, bis alles gerichtet ist, die Zeit läuft unerbittlich davon! Die Gedanken auch, was wollte ich heute unbedingt erledigen? Und dann der obligatorische Fluch, was ist das bloß für eine Zeit, früher war es doch viel besser! Das ist natürlich Unsinn, aber eines stimmt: Früher war ich viel besser, also lernt nur von meinen frühesten Erfolgen und überhört geflissentlich das Stöhnen der späten Periode! Denn wenn sich eine junge Rebe an eine ausgedörrte Wäscheleine klammert, wird sie auch nur Rosinen tragen!
Kismet
Manche sagen es ganz heiter
Das Leben sei ‘ne Hühnerleiter.
Tatsächlich ist es kompliziert,
Weil täglich in dir viel passiert,
Woran du vorher nicht gedacht,
Sonst hättest du das nicht gemacht.
Als Beispiel sei nur angerissen,
Die Liebe, menschlich Ruhekissen,
Die Wunden heilt und alles kann,
Doch packt sie dich als reifen Mann,
Setzt der Verstand noch einmal aus,
Du läufst ihr nach ins fremde Haus.
Und willst noch ‘mal von vorn’ anfangen,
Dabei bist du doch so befangen,
Dass es dir nicht gelingen kann,
Und stehst dann da als armer Mann,
Und ziehst als Lebens letzten Schluss,
Dass es doch mehr ist als ihr Kuss!
Eisblumen
Wenn glitzernde Eisblumen Scheiben belecken,
Und fröstelnde Menschen die Körper verstecken,
Wenn der „Nord-Ost” versendet eisigen Hauch,
Aus dem Schornstein aufsteigt schneeweißer Rauch,
Dann lass’ sie rasch fliegen die Schmetterlinge,
Und stell’ dir vor die schönsten Dinge!
Schmetterlinge im Bauch
Liebkosende Hände
Erwecken ein Beben,
Wär’s niemals zu Ende,
Das Schönste am Leben.
Kraftvoll flatternd im Bauch
Tausend Schmetterlinge,
Als berauschender Hauch
Heiss ersehnter Dinge.
Beraubt aller Sinne,
Weit geöffnet die Tür,
Flüstert liebende Stimme:
Jetzt gehörst du nur mir!
Großes gewollt zu haben, ist groß
„Magna voluisse magnum“ kann der Vorbeieilende auf Ferdinand von Schills Grabstein auf dem zum Park verwilderten alten Stralsunder Friedhof lesen.
Aber wer geht hier schon gerne entlang, es ist viel zu gefährlich geworden.
Als Kinder benutzten wir allerdings diesen Weg als Abkürzung zum Freibad. Die Übersetzung kannten wir, schließlich war unser Onkel Lateinlehrer an der „Hansa“, aber das Zitat sagte uns damals gar nichts. Wir wollten groß werden, um unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Normales Ziel jedes Heranwachsenden. Nicht jeder kann große Taten vollbringen und will es auch gar nicht.
Aber leben will jeder. Mehr wollte ich auch nicht.
Und da war ich nun. Schlaksig, neugierig und immer hungrig.
Zehn Salzkuchen von Bäcker Radfahn aus der Hainholzstraße, dünn mit Griebenschmalz geschmiert, waren keine Seltenheit. Und dazu frische Milch von Bauer Bahls. Oder Heisswecken mit süßer Milch und Mandeln. Wo meine Großmutter das Geld für meinen hungrigen Bauch hernahm, blieb mir ein Rätsel.
Unaufhaltsam wuchs ich, lernte Schwimmen und Radfahren, aus Nachbars Garten mit einem langen Stock, der an der Spitze einen rostigen, dicken Nagel trug, Äpfel aufzuspießen und durch den engen Maschendraht zu bugsieren und manch andere nützliche Dinge. Eine bessere Großmutter konnte es nicht geben. Und was waren für Geheimnisse auf dem riesigen Boden in den unzähligen Schränken und Truhen verborgen, die sie nach und nach lüftete! So vergingen die Tage viel zu schnell, Langeweile war ein Fremdwort. Und wenn mal gar nichts zu erforschen war oder schlechtes Wetter das Ströpern verhinderte, konnte sie mich stundenlang mit ihren Sammelalben voller Stollwerck- oder Liebig-Bilder fesseln oder mit einer alten Laterna Magica, durch die man auf Glas gemalte Bilder, durch Kerzenlicht an die Wand geworfen, stundenlang betrachten konnte. Und was sie für Geschichten kannte! Oft konnte ich danach nicht einschlafen und träumte nachts davon. Ich saugte alles gierig in mich auf, als könnte mir die Zeit davonlaufen.
„Großmutti, erzähl uns noch eine Geschichte“, sagten wir abends in unseren Betten auf dem Dachboden, wenn Großmutti uns wie immer den Gutenachtkuss und für jeden ein Stück Vitalade brachte, und dann sprudelte es unaufhörlich aus ihr heraus: „Unser Großvater besaß mit der „Sophia Charlotta“ die damals größte Dreimastbark der Ostsee. Sie hatte ein Bruttoregistergewicht von 750 Tonnen! Er kreuzte mit ihr auf allen Meeren und trotzte manchen Gefahren. Sein Leitspruch lautete: „Mannes Wort-fester Hort.“ Es war etwa 1830, als die „Sophia Charlotta“ nach einer stürmischen Fahrt, die das Schiff verschlagen hatte, an der damals noch wenig bekannten Küste Afrikas Anker warf, um Wasser einzunehmen. Ein Boot wurde flott gemacht, und ein Teil der Mannschaft unter Führung des zweiten Steuermanns ging an Land, um nach Trinkwasser zu suchen. Hierbei wurden sie von Eingeborenen überfallen, gefangen genommen und verschleppt. Durch einen Unterhändler wurde von dem Häuptling ein hohes Lösegeld gefordert. Deutsche Konsulate gab es damals nicht, der Kapitän war auf sich selbst angewiesen und fand im Ausland nicht den Schutz wie heute. So ließ er dem Häuptling sagen, dass er nach einer bestimmten Frist das Lösegeld herbeischaffen werde und bis dahin Schutz für seine Leute verlange. Das wurde zugestanden, dennoch erduldeten die Gefangenen manche Härte. Durch ungünstige Winde verzögerte sich die Heimkehr des Schiffes, und so mag dem Häuptling die Geduld ausgegangen sein. Am Strande, an der Stelle, wo vor Wochen das Boot einst landete, wurden Pfähle eingerammt, die Matrosen wurden gefesselt, mit Stroh umwunden und dieses mit einer Teer ähnlichen, leicht brennbaren Flüssigkeit getränkt, dann jeder Mann einzeln an einen Pfahl gebunden. Der ganze, nach vielen Hunderten zählende Stamm hatte sich am Ufer versammelt, um sich an den Qualen der Seeleute zu weiden. Fertig zum Anzünden entdeckte der Steuermann fern am Horizont ein Segel. Eine gewaltige Spannung trat ein und Hoffnung beseelte die Männer, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hatten und sich ergeben dem schrecklichen Schicksal beugten. Ein Seemannsauge ist scharf, erkennt ein Schiff bald schon an der Stellung der Masten, an der Takelage und dem Stand der Segel. Es war in der Tat die „Sophia Charlotta“, die mit dem Lösegeld zurückkam. Aber nicht mit dem allein, vier kleine Geschütze, die in möglichster Eile beschafft und wozu ein Zufall die Hand geboten, sollten im Ernstfall der Forderung um Freigabe der Gefangenen Nachdruck verleihen und kam die „Sophia Charlotta“ zu spät nach dem alten Gesetz, Auge um Auge, Zahn um Zahn, blutige Vergeltung üben. Die Auslösung der Gefangenen ging indes friedlich vonstatten und mit Jubel wurden sie an Bord begrüßt. Nie unternahm er wieder Fahrten ohne diese