Begegnungen. Группа авторов
Josef Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, Heidelberg 1979, S. 5. ↵
62 Haller/Kölz/Gächter (Fn. 61), Rz. 87. ↵
63 Wenig tröstlich wird sein, dass Paradoxien in der modernen Gesellschaft unvermeidlich sind, vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 1144. ↵
64 Ausschnitte aus: Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan, Epilog, zit. nach Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1967, S. 1607; für einen möglichen Ausweg vgl. Gächter (Fn. 57), S. 63, wonach das Versicherungsprinzip (Sozialversicherung!) eine «geradezu modellhafte Verbindung von Solidarität und Subsidiarität» sei. ↵
Angehörigenpflege –
Jetzt muss etwas getan werden!
Martina Filippo
Inhalt
2 Ausgangslage Überalterung der Gesellschaft Pflegekräftemangel Zwischenfazit
3 Probleme Absicherung der informell pflegenden Person Fehlende Definitionen «Versicherungsdschungel»
5 Braucht es eine Pflegeversicherung?
Wie alles begann
Die meisten Studierenden der Rechtswissenschaft zieht es nach Abschluss des Studiums ins Anwaltspraktikum oder sie schreiben eine Doktorarbeit. Ich hatte andere Pläne: Seit meinem fünften Lebensjahr tanzte ich Ballett. Da ich meine Leidenschaft zum Beruf machen und der nächsten Generation diese Leidenschaft für die Bühne weitergeben wollte, absolvierte ich nach dem Studium eine Ausbildung zur Ballett- und Tanzpädagogin an der «Accademia Teatro alla Scala» in Mailand, Italien. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre und war eine Mischung aus Präsenzunterricht für die Praxis und Theorie von zu Hause aus. Da sich die Ausbildung an Berufstätige richtete, war ich nicht zu 100% ausgelastet, weshalb ich eine Teilzeitstelle als Juristin suchte. Ich war jung und naiv und glaubte, Teilzeitstellen für Juristen würden auf der Strasse liegen. Aber weit gefehlt! Damals waren Teilzeitstellen generell rar und für Juristinnen und Juristen frisch ab Studium praktisch inexistent. Es hagelte Absage um Absage, z.T. mit dem Hinweis, dass ich für eine Vollzeitstelle zu einem Gespräch eingeladen werden würde, nicht aber für eine Teilzeitstelle. Anfangs scherzte ich, dass ich doktorieren würde, falls ich keine Teilzeitstelle finden sollte. Irgendwann wurde aus Spass Ernst. Eigentlich wollte ich das Anwaltspraktikum absolvieren und die Anwaltsprüfung bestehen, um dann als Anwältin in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten; selbstverständlich in Teilzeit, damit ich auch noch Ballett unterrichten könnte. Aber es kommt nicht immer alles so, wie man es sich vorstellt…
Nach einem Jahre des erfolglosen Bewerbens realisierte ich, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war. Also informierte ich mich über das Doktorat. Leider war mein Lizenziat II nicht so brillant und ich war ein Fall von §10 Abs. 2 der Promotionsverordnung der Universität Zürich. Ich musste mir ein Fakultätsmitglied suchen, welches sich bereit erklären würde, meine Betreuung zu übernehmen. Strategisches Handeln war also angezeigt. Ich erinnerte mich mit grosser Freude an die Vorlesungen im Sozialversicherungsrecht, welche von Prof. Thomas Gächter gelesen wurden und bei mir auf grosses Interesse stiessen. Sozialversicherungsrecht war damals ein Wahlfach und wir waren dementsprechend wenige Studierende, die diese Vorlesung besuchten. Ich gehörte zu denjenigen Studierenden, die die Prüfungsfächer nach Interesse (und nicht nach möglichst geringem Lernaufwand) aussuchten. Und so hatte ich eine mündliche Prüfung bei Thomas Gächter im Sozialversicherungsrecht. Wir waren damals drei (!) Studierende, die diese Prüfung ablegten und ich war die einzige Frau (!). Ich schnitt ziemlich gut ab, was mir die Hoffnung gab, dass Thomas Gächter sich vielleicht – auch nach zwei Jahren – an mich erinnern könnte und sich bereit erklären würde, mein Doktorvater zu werden. Nervös griff ich zum Telefonhörer, bereit meinen zuvor auswendig gelernten Text vorzutragen und was sagte Thomas Gächter, nachdem ich meinen Namen gesagt habe? «Auf Sie habe ich gewartet.»
Planlos wie ich war, hatte ich nicht einmal ein mögliches Dissertations-Thema. «Irgendwas mit Sozialversicherungsrecht», war mein Wunsch. Thomas Gächter unterbreitete mit daraufhin ein paar Vorschläge und ich wählte das ungeheuer weite Feld «Angehörigenpflege». Seine damalige Assistentin Brigitte Blum-Schneider gab mir Starthilfe und so fing ich an zu diesem Thema zu recherchieren und schreiben. Einige Monate, nachdem ich mit meiner Dissertation begonnen hatte, bot mir Thomas Gächter eine Assistentenstelle bei ihm am Lehrstuhl an. Eine Teilzeitstelle! Mit allen Freiheiten der Welt! Flexible Arbeitszeiten, freie Arbeitsgestaltung, Möglichkeit zum Home-Office. Ich war im Paradies gelandet. Der einzige Nachteil: So eine Stelle und so einen Chef gibt es kein zweites Mal. Gibt es doch, wie ich mittlerweile weiss.[1]
Ich bekam von Thomas Gächter zahlreiche Publikationsmöglichkeiten, die mir bis heute viele Türen geöffnet haben und sicher weiterhin öffnen werden. Gerade mein Dissertationsthema «Angehörigenpflege» ist in den letzten Jahren stark in den Fokus der Politik gerückt.
Da das Thema «Angehörigenpflege» extrem breit ist und niemand genau weiss, wer denn eigentlich diese «Angehörige» sind, habe ich mein Thema darauf eingeschränkt, die sozialversicherungsrechtliche Absicherung unentgeltlich pflegender Personen im Erwerbsalter zu untersuchen.[2] Ich klärte ab, was informell pflegende Personen von den Sozialversicherungen für ihre Arbeit erhalten (nichts[3]), was die gepflegte Person von den Sozialversicherungen zur Finanzierung ihrer informellen Pflege erhält (wenig[4]) und wo der informell pflegenden Person Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung entstehen (überall[5]), wenn sie ihr Arbeitspensum wegen der hohen Pflegebelastung reduzieren oder aufgeben muss.
Meine Dissertation erschien im Jahr 2016. In den letzten fünf Jahren scheint das Thema das Interesse der Politik und der Bundesämter geweckt zu haben. Ich erhielt im letzten Jahr und diesem Jahr verschiedene Anfragen, mich zu diesem Thema zu äussern. Tatsächlich wurde auch einiges im Bereich der «Angehörigenpflege» gemacht. Wurde aber genug getan?
Ausgangslage
Überalterung der Gesellschaft
Warum ist das Thema «pflegende Angehörige» überhaupt so wichtig? Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2011 über Pflegebedürftigkeit und deren Auswirkungen droht eine Überalterung der Gesellschaft.[6] Zumindest für die Schweiz scheint sich diese Prognose zu verwirklichen: Im Jahr 2019 gehörten bereits 18,7% der Wohnbevölkerung zur Gruppe der über 64-Jährigen. Parallel dazu steigt auch die Anzahl der pflege- und betreuungsbedürftigen Personen. Die Klientel von ambulanten Pflegediensten wuchs auf 394‘400 Personen an. Dazu kommen etwa 164‘600 pflegebedürftige Personen in den Pflegeheimen der Schweiz.[7] Die Anzahl der pflegebedürftigen Personen in der Schweiz wird also in den nächsten Jahren weiter ansteigen.[8] Obwohl viele Menschen bei guter Gesundheit ein hohes