Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug
zurück. Es höhlt den Sinn der kulturellen Phänomene aus. Nur deren leere Hülse bleibt zurück im Waffenarsenal bürgerlicher Geltungskonkurrenz. Fürs Kulturelle findet Bourdieu keine Sprache. Die kritischen Begriffe, die er systematisch entwickelt, beziehen sich ausschließlich auf jene gesellschaftlichen Geltungsfunktionen und -mechanismen, die er an seinem Material herausarbeitet.
Das Unterfangen von Kants Kritik der Urteilskraft ist also durch Bourdieus soziologische Metakritik keineswegs erledigt, nur dass die Neuaufnahme des kantschen Projekts durch deren Filter muss. Die Ordnung der Schönheit als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und die der Freiheit als »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«32 umschreiben, wie Herbert Marcuse erkennt, »über das kantsche System hinaus das Wesen einer wahrhaft repressionsfreien Ordnung« (Triebstruktur, 154). Wenn nun, wie bei Friedrich Schiller, auf dieser Grundlage »die ästhetische Funktion zum zentralen Thema der Kulturphilosophie wird, so wird sie dazu gebraucht, die Prinzipien einer nicht-unterdrückenden Kultur darzustellen, in der Vernunft sinnlich ist und Sinnlichkeit vernünftig« (156), eine Perspektive, deren mögliche Wahrheit von der Wahrnehmung der Herrschaftsgrundlagen der ›Kultur‹ abhängt, von denen gesagt werden konnte: »Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«33 Erst dann öffnet sich allen der Zugang zur »menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit« (25/828). Bis dahin bleibt diese Perspektive eine Utopie, die, um nicht zur herrschaftsstabilisierenden Ideologie zu werden, die politisch-ökonomischen und ideologisch-kulturellen Grenzen kennen muss, die sie von ihrer Verwirklichung abschneiden.
4. Versuch eines praxisphilosophischen Neubeginns
In den Unterschied selber, die Abweichung,
hat Hoffnung sich zusammengezogen.
Adorno, Kultur und Verwaltung
»Es ist niemals ein Dokument der Kultur«, notiert Walter Benjamin, »ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« (GS I/2, 271), ein Urteil, das Ernst Bloch »etwas zu allgemein verwerfend«, dennoch im Kern berechtigt fand (GA 7, 411). Für Freud dagegen ist dasjenige »›barbarisch‹, was der Gegensatz zu kulturell ist« (Unbehagen, 223). Doch begreift man, wie Adorno hier einhakt, »Kultur nachdrücklich genug als Entbarbarisierung der Menschen, die sie dem rohen Zustand enthebt, ohne ihn durch gewalttätige Unterdrückung erst recht zu perpetuieren, dann ist Kultur überhaupt misslungen« (GS 8, 141). Denn nicht vor allem der Umgang der Barbaren mit ›der Kultur‹, sondern der Umgang der ›Zivilisierten‹ mit den ›Barbaren‹ und deren innergesellschaftlichen Erben, den Ungezählten, deren Schicksal die unfreie Arbeit ist und von deren Blut die Kultur sich nährte, macht Dokumente der Kultur zu solchen der Barbarei. Und auf ›gebildete‹ Weise barbarisch ist der objektiv zynische Umgang mit Kunstwerken, den Bourdieu als bürgerliche Distinktionspraxis herausgearbeitet hat. Hier ist die kulturelle Urteilskraft gefragt. Sie hat nicht mehr die Geschmacksfragen beim Konsum sogenannter Kulturgüter im Sinn. Ihre Frage ist dem Leitgedanken der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss verschwistert, »einen Geschichtsprozess zu befragen, in dem die Herrschenden und ihre kulturelle Elite der Masse der Nichtprivilegierten die Fähigkeit raubten, zu sehen, zu hören und zu wissen, oder sie dazu brachten, sich selber zu berauben« (Götze/Scherpe 1981, 6f).
Um die kulturelle Urteilskraft zu entwickeln, tut eine philosophische Grundlegung Not. Also holen wir die verabschiedete Philosophie wieder ins Boot, freilich nicht irgendeine. Fern von aller Wesensmetaphysik hilft uns nur eine praxisphilosophische. Mit der Analytischen Philosophie, deren ideologische Effekte sie bekämpft, teilt sie ein Stück der Methodik. Nicht umsonst hat ja bereits Marx von »meiner analytischen Methode« gesprochen und noch immer aktuelle Ansätze der Sprachkritik entwickelt.34 Nur dass die geschichtsmaterialistische Methode gesellschaftstheoretisch eingebettet ist. Marx belässt es nicht bei bloßer Sprachkritik der politischen Ökonomie. Von einer philosophischen Grundlegung der Kulturtheorie können wir verlangen, dass sie zur Analyse von Praxiszusammenhängen befähigt,35 einer Analyse, die ihre Substanz verloren hat, wo immer ihre Adepten sie des gesellschaftstheoretischen Fundaments und des widerständigen Geistes beraubt und auf beschreibende Ethnographie reduziert haben, nicht selten zugunsten eines »juste Milieu«, das sich »bereitwillig seine Spitzen abgebrochen hat« (Schindler 2002, 279). Sie orientiert auf wechselwirkende Praktiken in antagonistischen Verhältnissen, die sich nicht in Diskurse auflösen lassen. Kurz: Statt von einem vermeintlichen Wesen der Kultur auszugehen, müssen wir aufs ›kulturelle‹ Wirken zugehen. Doch können wir dieses trennscharf bestimmen, ohne ein Wesenswissen vorauszusetzen?
Hier ist eine Vertiefung unserer epistemologischen Reflexion des Kulturellen angezeigt, um uns gegen das Missverständnis zu wappnen, Begriffe seien Namen des faktisch Gegebenen. Begriffe sind Abstraktionen, die dann brauchbar sind, wenn sie tatsächliche Bewandtnisse komplexer Gegenstände erfassen. Sie sind analytisch gewonnene Denkbestimmungen, deren Aufgabe es ist, auf dem fürs Denken einzig gangbaren Weg Konkretion zu erreichen.
Es hilft, sich die Weise anzusehen, in der Marx sich das Problem zurechtgelegt hat, als er die Kritik der politischen Ökonomie noch vor sich hatte: Spontan scheint es richtig, »mit dem Realen und Konkreten […] zu beginnen«, bei der Ökonomie etwa mit der Bevölkerung. Doch »Bevölkerung« ist eine schlechte Abstraktion, »wenn ich z. B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn. Z. B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z. B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da, wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen.« (42/34f) Daraus folgt der epistemologische Grundsatz: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist.« (35)
Auf unser Thema angewandt, heißt das: Kulturtheorie kann nicht beim opaken empirischen Konkretum anfangen, dem der Hauptstrom einer Gesellschaft den Namen »Kultur« beilegt. Sie steht zunächst vor der Aufgabe, die objektiven Bestimmungen analytisch auseinanderzulegen und begrifflich zu fassen, die sich im empirischen Phänomen teils strukturell verbinden, teils überlagern.
Dazu muss sie die Frage der Spezifik des Kulturellen an der ›Kultur‹ trennscharf fassen und begründen. Ein Blick auf die marxsche Arbeitsweise ist auch hier lehrreich: Um die Frage der Spezifik der kapitalistischen Ökonomie beantworten zu können, musste er die Keim- und Elementarform bestimmen, aus der sich sein Erkenntnisobjekt im strukturgenetischen Doppelsinn aufbaute. Nach langem Experimentieren fand er sie in Gestalt der Warenform oder Wertform, die er ihrerseits aus der Praxis unter Bedingungen privat-arbeitsteiliger Produktion ableitete.
5. Quellform der Kultur
Auch der theoretische Kulturbegriff ist nach dem bisher Entwickelten gehalten, bei der Elementar- und Keimform zu beginnen. Wir nennen sie vorläufig das Kulturelle Moment. Nach ihm fragend, interessieren wir uns für die Quellform der »Kultur«, so wie wir an anderer Stelle Keimform und Modus der Ideologie das Ideologische genannt haben.36 Das Ideologische entspringt der Herrschaft, die sich rückwirkend aus ihm begründet. Seine historische Grundlage ist die staatlich reproduzierte, arbeitsteilige Klassengesellschaft. Grob gesprochen fällt sie mit dem Beginn der geschriebenen Geschichte zusammen. Insgesamt umfasst sie nicht mehr als die jüngsten Minuten des geschichtlichen Tages der menschlichen Gattung. Von der Kultur dagegen müssen