Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug


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»komplizierten Kombination aus Warenform und Erfahrungsrelevantem« bringt es einen dazu, mit letzterem die Warencharaktere zu schlucken. So muss zum Beispiel »die Trennlinie […] innerhalb der Popkultur51 selbst liegen«, und »um jene Unterscheidungen zu erkennen, die tatsächlich einen Unterschied machen, die Unterschiede wirklicher Erfahrungen sind, Unterschiede gelebter Geschichte«, muss man sich auf dieses Feld einlassen (486).

      Wenn Lust und Genuss das gesellschaftlich-politisch Trennende hinter einem Gemeinsamen verschwinden lassen können, so ist erst recht die kulturelle Unterscheidung, deren Wurzeln keine ganz anderen sind, auf allen Seiten der gesellschaftlichen Antagonismen anzutreffen. Obwohl sie im anthropogenetischen und dann menschheitsgeschichtlichen Sinn weitertreibend wirkt, kann sie im Einzelfall ins Privat-Hedonistische oder auch Regressive gehen. Als Universalie menschlichen Daseins vermag sie alle Formen anzunehmen, doch immer entspringt ihr Ja der Selbstbejahung der Subjekte. Alle praktizieren sie ständig und auf ihre je eigene, durch Lebensumstände und -geschichte bedingte Weise, die Unterdrücker wie die Unterdrückten. Selbst »Kaufentscheidung ist (wenngleich oft nur marginal) immer auch kulturelle Unterscheidung« (KdW, 275).52 Man muss das Denken des Kulturellen zunächst weghalten von moralischen Wertungen und sozialer oder politischer Parteilichkeit. Gut für mich selbst heißt nicht ethisch gut. Die Ethik erweist sich im Verhältnis zum Anderen, wie Aristoteles, der sie als Teil der Politik begreift, es auf den Punkt gebracht hat.

      Die Resultate der kulturellen Unterscheidung fixieren sich in Gewohnheiten und Institutionen. Dies machen die verschiedenen Ebenen und Formen antagonistischer Kommunikation53 sich zu Nutze. Das massenhaft Vorgezogene wird Legitimationsstoff und Konkurrenzmittel zugleich. In der Epoche der ästhetischen Gebrauchswert-Monopole in Gestalt der Markenartikel (KdW, 231ff) wird das Kultivieren konkurrierender Unterschiede zur Existenzbedingung fürs Kapital und ist »im Grunde nichts anderes als ein Aspekt des modernen Konsumismus« (Hall 2008, 486). In der resultierenden Kultur überlagern und durchdringen sich die Aktionen all dieser Mächte, Instanzen und Akteure. Kurz, nicht alles ist kulturell an der ›Kultur‹, diesem opaken, vielgesichtigen Gegenstand von Diskursen und Politiken. Alle Mächte mischen in ihr mit, nicht zuletzt die ökonomischen, politischen und ideologischen. »›Herrschende Kultur‹ mag kulturelle Bedeutung im hier definierten Sinn für eine herrschende Klasse haben, ideologische jedoch für die beherrschten Klassen oder Völker. Die kulturellen Blumen werden ständig von den ideologischen Mächten gepflückt und als ›unverwelkbare‹ Kunstblumen von oben nach unten zurückgereicht, eingebaut in die vertikale Struktur des Ideologischen. Umgekehrt können auch ideologische Phänomene von den Volksmassen ›profaniert‹, angeeignet und in ihren eigenen Kultur- und Identitätsprozessen assimiliert werden. Wie in solchen Fällen von kulturellen Effekten von Ideologischem gesprochen werden kann, so von ideologischen Effekten von Kulturellem, wenn dieses aufgrund seiner Attraktivität – sei es für die Massen, sei es für die Ideologen selbst – in eine ideologische Macht hineinwirkt und dort Veränderungen bewirkt. In der kapitalistischen Warenproduktion kompliziert eine dritte Instanz die Struktur des Alltagsbewusstseins: die Warenästhetik ruft kulturelle Effekte hervor, wenn sie das tätige Ausfüllen ihrer imaginären Räume um die Waren durch Konsumenten induziert. Andererseits fungiert sie als ideologieförmige Macht, die Glück und Befriedigung als oberste Attraktionen setzt und alle möglichen anderen Attraktionen und Kohäsivkräfte, auch ideologische, dem unterordnet und mit dem Erwerb und Konsum bestimmter Waren verknüpft.« (ETI, 53)

      Den genetischen Prototyp ›herrschender Klasse‹ haben Marx und Engels in den patriarchalischen Geschlechterverhältnissen in Gestalt der Verfügung der Männer über Körper und Arbeitskraft ihrer Frauen und Kinder gesehen. Dass Freud den Hauptteil des »Unbehagens in der Kultur« den Frauen zuschreibt,54 zeigt ihn mitten in der Hellsichtigkeit blind für diesen Urgrund der patriarchalen Kultur. Blind dafür machte sich auch die UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko-City 1982, als sie in §2 festlegte, »die Behauptung der kulturellen Identität [trägt] zur Befreiung der Völker bei«, während sie gleichzeitig »jede Form von Dominanz« zur »Verleugnung oder Beeinträchtigung dieser Identität« erklärte, ohne die für die Frauen repressive Dominanz der Männer in den meisten dieser feierlich für unantastbar erklärten Kulturen zu erwähnen oder anders als implizit in Frage zu stellen.55

      Le paradis est toujours à refaire

      Paul Valéry, »Narcisse parle«

      Welcher Platz gebührt der Schönheit in unserer Skizze des Kulturellen? Ohne Zweifel gehört sie zum Erwählten des kulturellen Unterscheidens. Warum, ist leicht einzusehen. Alle Menschen streben nach Glück. Und das Schöne, sagt Nietzsche, einen Satz Stendhals aufnehmend, »verspricht das Glück« (KSA 5, 349). Wenn die kulturelle Unterscheidung dem Schönen den Vorzug gibt, so nicht dem antagonistisch eingesetzten Pandora-Schönen der Warenwelt, das sich den Betrugskünsten verdankt; sondern ihr steht der Sinn nach »Schönheit ohne Lüge« (Bloch, Materialismusproblem, GA 7, 408) als dem verkörperten »inhärenten Maß« aller Dinge (Marx, I.2/241).

      Auf die Frage nach einer Erklärung dieses Vorrangs der Schönheit in Begriffen seiner Kulturtheorie bleibt Freud die Antwort schuldig.56 Marcuse dagegen, der ihm in den Grundaussagen zunächst folgt, versteht sie auf den Spuren der idealistischen Utopie einer Versöhnung zwischen Vernunft und Sinnen. Zwischen dem Triebverzicht, der der Not gehorcht, und dem gegen die Vernünftigkeit des Verzichts subversiven Lustverlangen soll die Schönheit vermitteln. Die Begriffe »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«, mit denen er sie fasst, entlehnt er, wie wir gesehen haben, Kants Kritik der Urteilskraft. Aus den Worten, in denen Adorno das Scheitern der darin enthaltenen Utopie einer nicht-unterdrückenden Kultur an der gesellschaftlichen Realität verzeichnen wird, spricht noch immer ihr Uneingelöstes: »Die unstillbare Sehnsucht angesichts des Schönen57, der Platon mit der Frische des Zum ersten Mal die Worte fand, ist die Sehnsucht nach der Erfüllung des Versprochenen. Es ist das Verdikt über die idealistische Philosophie der Kunst, dass sie die Formel von der promesse du bonheur nicht einzuholen vermochte.« (Ästh. Theorie, 128)

      Am Schönen und der an dieses sich klammernden Lust trennen sich die Wege. Es kann einschlagen wie eine Bombe ins falsche bourgeoise Leben, an das man sich gewöhnt hatte. Dann ist es »nichts / als des Schrecklichen Anfang«,58 unvereinbar mit den Logiken der Macht, des Geldes, der Reputation. Es wird zerstört, wenn diese zu seiner Eroberung eingesetzt werden. Und es zerstört, die um seinetwillen diese Logiken missachten.

      Oder es lassen am Verlangen nach Schönheit die Menschen sich tiefer in die zwanghafte Kultur ziehen, wo sie, wie Marcuse sagt, »als die Werkzeuge und Opfer ihres eigenen Lebens funktionieren«. Dabei wird »die verdrängende und unterdrückende Kraft des Realitätsprinzips […] erneuert und verjüngt« und »durch ›schöpferische‹ Identifizierungen und Sublimierungen gestärkt, die den Haushalt der Kultur bereichern und gleichzeitig schützen« (Triebstruktur, 93). Marcuse bestreitet nicht Freuds Annahme von der Triebversagung im Fundament der Kultur. Doch er geht davon aus, dass die Produktivitätsentwicklung den »Verbrauch an Energie und Anstrengung zur Entwicklung eigener Hemmungen […] sehr verringert hat« (93). Die wachsende Kluft zwischen dem objektiv Möglichen und der durch den mechanischen Selbstlauf der hinter der Entwicklung herhinkenden Kultur aufgezwungenen Praxis haben nach seiner den »Goldenen Jahren« des Fordismus entstammenden Diagnose die »Verbindungen zwischen dem Einzelnen und seiner Kultur […] gelockert« (ebd.).59

      Die entfremdete Kultur ist die für uns unverfügbare, die über uns verfügt. Doch Kultur hängt von Bedingungen ab. Zuletzt hält nicht die Kultur die Menschen gefangen, sondern die Bedingungen halten das Bedingte, die Ökonomie hält die Kultur gefangen und vermittels dieser die Menschen selbst.

      Das Menschenwerk, das sich gegen die Menschen verselbständigt hat und sich ihnen gegenüber auf die Hinterbeine stellt, ist nicht das Kulturelle an der ›Kultur‹, sondern entspringt den historischen »Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert«; sie gelten dem »bürgerlichen Bewusstsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst« (23/95f). Der Bann der entfremdeten


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