Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug


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die hier in der Form von […] Tönen, kurz der Sprache auftritt.« (3/30)70 Diese »ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein«, wie sie auch »aus dem Bedürfnis […] des Verkehrs mit anderen Menschen« entstand (ebd.).

      Als kulturelle sind die Dinge kulturell-gegenständlich. In philosophisch reflektiertem Sinn kann es daher strictu sensu keine ›immaterielle Kultur‹ geben. Mit dem Wegfall dieses seines binären Komplements verliert der Begriff der materiellen Kultur seine Trennschärfe. Sofern es um die mobilen Gegenstände und um die immobilen Architekturen geht, auf die Kultur in einer ›Kulturlandschaft‹ sich stützt und mittels derer bzw. in denen sie sich reproduziert, liegt es nahe, von real-gegenständlicher Kultur zu sprechen und dieser die dank real-gegenständlicher Informationsträger und Abspielgeräte konsumierbare imaginär-gegenständliche Kultur zur Seite zu stellen.

      Der Begriff des Objekts verweist auf den eines Subjekts, das sich auf Elemente oder Ausschnitte der Wirklichkeit bezieht. Bewusst auf Gegenstände sich beziehen zu können, ist von der philosophischen Anthropologie als Gegenständlichkeit gefasst worden. Um Gegenständlichkeit von Objektivität zu unterscheiden und die Form des Objektseins für ein Subjekt zu bezeichnen, hat Schopenhauer den Term »Objektität« eingeführt. Für Hegel ist die Gegenständlichkeit ins dialektische Drama der Entfremdung des Geistes und der schließlichen Aufhebung dieser Entfremdung eingeschrieben. Der junge Marx fasst »Gegenständlichkeit« als den humanspezifischen Realitätsbezug, der intersubjektiv vermittelt und für die Konstitution des menschlichen Subjekts entscheidend ist. Menschen leben in einer »von dem Menschen erzeugten gegenständlichen Welt, seinen zur Gegenständlichkeit herausgebornen Wesenskräften« (40/583). Da das Herausgebären der humanspezifischen Wesenskräfte ein geschichtlicher Prozess ist, kann den menschlichen Individuen ihr Wesen nicht angeboren sein, während die biologische Evolution seit Jahrzehntausenden zunehmend gesellschaftlich neutralisiert worden ist, indem nicht nur die »Fortschritte in der Ausrüstung, die die Menschen für sich selbst herstellen – das heißt in der Kultur –, an die Stelle körperlicher Veränderungen getreten« sind (Childe 1959, 40), sondern auch der »von kooperativer Arbeit getragene gesellschaftlich-historische Prozess« in die »Aufhebung individueller Lebenserhaltung in gesellschaftliche Lebenserhaltung« mündete (Holzkamp 1973, S IV, 137). Parametern der Werkzeugentwicklung sind folglich Parameter der Entwicklung institutionalisierten sozialen Zusammenwirkens und gesellschaftlicher Herrschaft zur Seite zu stellen. Friedrich v.Hayek interpretiert diesen Prozess sozialdarwinistisch als Evolutionsprozess, in dessen Verlauf »Institutionen sich durch einen Prozess der Ausschaltung der weniger effizienten entwickelt« haben (1967, 24, unter Berufung auf Tucker 1756). Dagegen hebt die Kritische Psychologie das Moment der auf Erfahrung gestützten Vorausschau und planenden Umgestaltung hervor.

      Im Zuge der historischen Entfaltung des interdependenten Gefüges von gesellschaftlicher Arbeit, sozialer Organisation, Bedürfnissen und sprachlich artikuliertem Bewusstsein kehrt sich das Verhältnis von Gattung und Wesen des Menschen um. Marx hat die Erkenntnis dieser Umkehrung in Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach gewonnen. Was in der Philosophie als »menschliches Wesen« (essentia) diskutiert worden ist, vermochte dieser »nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit« zu fassen. Dagegen Marx: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (3/6) Lucien Sève ergänzt: Dem menschlichen Individuum ist sein Wesen nicht angeboren; es hat es außer sich, »außermittig«71, als »gesellschaftliche Menschenwelt, und jedes natürliche Individuum wird dadurch zum menschlichen, dass es sich durch seinen wirklichen Lebensprozess […] vermenschlicht.« (1972, 156) In der menschlichen Natur, welche die Neugeborenen mitbringen, ist die Potenzialität und damit eine enorme Variabilität angelegt, die jedoch kein Individuum aus sich selbst heraus, sondern ausschließlich in der historisch gewordenen und weiter werdenden gesellschaftlichen Welt verwirklichen kann. Mensch zu sein ist ein nachgeburtliches realisandum. »Man sieht«, notiert Marx 1844 in Paris, »wie […] das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist« (40/542). Was die Archäologen in diesem Buch aufschlagen, sind frühere Kapitel. Ihre Funde sind oder deuten auf sachliche Realisationsmittel der historischen Menschwerdung, zugleich verschwiegene Zeugen der hierfür unabdingbaren sozialen Organisation, deren konkretes Leben Kultur ist, die sich über den Kult durch ein Ensemble normativer Selbstbegrenzungen gegen die angeborene Wesenlosigkeit und Variabilität verteidigt.

      Der Begriff der Gegenständlichkeit im philosophisch-anthropologischen Sinn setzt die Unterscheidung von Umwelt und (menschlicher) Welt voraus. Bei Gordon Childe gehen die Begriffe durcheinander, wo er unter »Umwelt« nicht nur »Klima (Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Wind) und physiographische Erscheinungen wie Gebirge, Meere, Flüsse und Marschland, […] tierische Feinde« versteht, sondern »im Falle des Menschen, sogar gesellschaftliche Überlieferungen, Gewohnheiten und Gesetze, wirtschaftliche Zustände und religiöse Glaubenslehren« (1959, 27). Diese Bestimmung übergeht, dass, »wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben« (Marx, Kapital I, 23/393, Fn. 89). Nur vom Standpunkt eines, der sich bewusstlos-gleichgültig durch die historischen Wirklichkeitsbedingungen seines menschlichen Wesens hindurchbewegt, erscheint die Menschenwelt als Umwelt. Childe unterscheidet an anderer Stelle die »materielle Kultur« von der (natürlichen) Umwelt, wenn er sie als dasjenige versteht, dessen Notwendigkeit fürs Überleben der menschlichen Gattung die humanspezifischen geistigen Fähigkeiten zugleich voraussetzt und als ihr Resultat stabilisiert. In ihr kristallisiert sich die Humanspezifik heraus. »Wenn aus Elephanten in der Eiszeit Mammuts hervorgingen, die an die veränderte Umwelt angepasst waren, so war die Spezies Homo sapiens imstande, in der gleichen Umwelt dadurch am Leben zu bleiben, dass sie ihre materielle Kultur verbesserte.« (1959, 27) Materielle Kultur steht hier fürs Gesamt der Artefakte, welche die Menschen zwischen ihre unmittelbare Körperlichkeit und bestimmte Bedingungen der äußeren Natur schieben. In die ökologische Nische, in der sie ihr Leben fristen, bauen sie gleichsam eine für sie bewohnbare Nische ein, einen künstlichen Welt-Innenraum. Sie wiederholen damit ein Prinzip, das es einst bestimmten Meeresbewohnern erlaubt hat, auf dem Lande zu leben, indem ihr Körper gleichsam wie ein nach innen gewendetes, bei Warmblütlern sogar temperiertes Aquarium fungiert. Die Menschen erfinden eine zweite Haut über ihrer Haut in Gestalt der Kleidung, und eine dritte in Gestalt der sich gegen die Außenwelt abschließenden Wohnstätte. Schließlich holen sie in die sogar das Feuer und grenzen diesen tödlichen Feind als lebenserhaltende Glut, die nie erlöschen durfte, in den Herd ein, der bei allen indogermanischen Völkern das Zentrum des Hauses bildet. Ihre Umwelt durchdringen sie mit Wegen. Doch all diese dinglichen Produkte hätten weder hergestellt werden können, noch könnten sie gebraucht oder bewohnt werden, wären sie nicht in Sprache und Institutionen eingehüllt, wie diese wiederum ohne sie in Gegenstandslosigkeit zurücksänken.

      Die Menschenwelt bildet einen vielschichtigen praktisch-gegenständlichen, mit Normen und Sanktionen armierten Verweisungszusammenhang. Um die objektivistische Schlagseite von Childes Begriff der materiellen Kultur zu spüren, muss man nur mit archäologischer Fiktion auf die Gegenwart blicken und sie so betrachten, als wären wir, ihre Träger, ausgestorben und als wäre alles kulturelle Leben in ihnen erloschen, als wäre das übrig bleibende Ensemble von dinglichen und baulichen Konstrukten zurückgesunken in den Status bloßer Umwelt für andere Lebewesen, zwar situiert in einer Landschaft, in der »the highly developed arboriculture […] over several centuries has removed virtually all trees which are not of direct economic value to the inhabitants« (Miller 1994, 398), doch ohne dass irgendwelche menschlichen Bewohner sich die ›Kulturpflanzen‹ zu Nutze machen würden. Der »Rostgürtel«, der sich in den 1970er Jahren durch die klassischen Industrieregionen des Eisenzeitalters zu ziehen begann, gibt eine Vorstellung davon, welche Art von Realität einem auf stoffliche Dinge beschränkten Verständnis von materieller Kultur allenfalls entsprechen könnte. Zugleich wird die Paradoxie der ›materiellen Kultur‹ deutlich.

       Auch wenn der extraterrestrische Beobachter, den wir in dieser Fiktion spielen, keine Kultur, sondern nurmehr deren dingliches Skelett vor Augen hätte, könnte er Ordnungen zwischen den toten Dingen


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