Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug


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als Artefakte entzifferten Dinge in Gestalt binärer Zusammenhänge wie Pfeil und Bogen, Nadel und Faden, Topf und Deckel usw., falls diese Dinge ihn durch ihre Gestalten als speziell zusammengehörig ansprächen. Dass sie das tun, ist aber ungewiss, und wenn sie das tun, dann nur im Modus der Übersetzung, die das Fremde ins Eigene holt und dadurch entfremdet. Denn diese dingliche ›Ansprache‹ würde eine weitgehend homologe Welt des Betrachters voraussetzen. Wäre die Welt, aus der er kommt, der in ihren dinglichen Überbleibseln betrachteten nur partiell homolog, käme es zum Quidproquo wie in Jaymie Uys’ Filmkomödie Die Götter müssen verrückt sein (1980). Hier wird aus einem Hubschrauber über der Wüste Kalahari eine leere Coca-Cola-Flasche geworfen. Sie fällt in die Welt der Buschmänner. In dieser entspricht ihr kein gegenständliches Verhalten. Im System der Objekte der Buschmänner ist kein Platz für sie vorgesehen. Einzig die »symbolische Form« (Cassirer) Götter ist für dieses unbekannte Objekt aufnahmefähig. Der Gebrauchsgegenstand der einen Kultur wird der fremden Kultur zum Kultgegenstand. Er wird zum machtbegabten Fetisch. Da er in dieser Form Unheil stiftet, muss er in die Welt seiner Herkunft zurückgebracht werden, wo er, zurückgekehrt, nichts ist, als eine leere Cola-Flasche.

      Auch wir kehren in unsere Welt menschlicher Gegenständlichkeit zurück und lassen die archäologische Fiktion fallen. In ihr bedeuten die Dinge durch ihre »figural-qualitativen Eigenarten« sich selbst, indem sie zugleich aufeinander verweisen. Klaus Holzkamp hat diese Bewandtnis ihre »Gegenstandsbedeutung« genannt (Schriften, IV, 26).72 Diese Dinge repräsentieren nicht in der Art von Symbolen, sondern präsentieren ihre ›Mitgliedschaft‹ in einem System von Gebrauchsdingen und dem ihm korrespondierenden System von Bedürfnissen und Befriedigungshandlungen. Sie sind gegenständliche Zeichen ihrer selbst, objektive ›Selbstbedeutungen‹. Das Bedeutete deutet sich selbst kraft seiner figürlichen und funktionellen Besonderung bei differenzieller Einordnung in die gegenständliche Welt.

      Doch in unserer gegenständlichen Welt widerfährt uns eine andere Verkehrung und Verrätselung als den Buschmännern bei Uys. Zwar fällt keine Coca-Cola-Flasche als fremder Fetisch in unsere kulturelle Welt, der dieser Gegenstand bestens bekannt ist. Doch mehr oder weniger unsere gesamte gegenständliche Welt, die doch die Realisationsbedingung unseres menschlichen Wesens ist, ist in eine andere Fetischform gefallen. Dass das so ist, hat zur Karriere des Begriffs ›materielle Kultur‹ beigetragen. Denn »modern mass material culture has made us all feel silly at different times, and it is this which makes the study of material culture such a serious pursuit.« (Miller 1994, 398)

      Den aristokratischen Konsumismus auf Kosten der Leibeigenen löste zuerst der bürgerliche Konsumismus auf Kosten der Lohnarbeiter ab, dann folgte der demokratische Konsumismus, durchpunktet von Inseln des Luxuskonsums der Reichen, all das umgeben von der steigenden Flut der Weltarmut und Auszehrung des natürlichen Lebensraumes unserer Gattung (und ungezählter anderer terrestrischer Gattungen). So lässt sich vom andern Ende der Geschichte her die Szene grob umreißen. Aber was bedeutet das für die Frage nach der ›materiellen Kultur‹?

      Nicht selten dient dieser Begriff als Pseudonym für kapitalistische Massenkultur. In dieser ist das Wesen aller käuflichen Dinge »in die Funktionale gerutscht«. Man sieht es ihnen nicht nur nicht an, sondern ihre »figural-qualitativen Eigenschaften« zeigen gerade ein anderes Wesen: Die brauchbare Seite, die sie unserem Bedürfnis zuwenden, also ihr Charakter eines Mittels zur Befriedigung unseres Bedürfnisses, ist ihrerseits Mittel für einen anderen Zweck, der unsere Bedürfnisse nur unter der Bedingung mit Instrumenten versieht, dass er unsere Bedürfnisse selbst instrumentalisiert. Was fürs Bedürfnis Gebrauchswert, ist fürs Kapital Tauschwert. Die gegenständliche Menschenwelt ist zunächst Warenwelt. Daher ist alle Kultur ›überdeterminiert‹ durch den Warenfetischismus. Es ist, als stellten sich die zum Verkauf angebotenen Gebrauchsgegenstände uns gegenüber auf die Hinterbeine und entfalteten einen Cargo-Kult. Dieser besteht darin, mit Bildern einer erwünschten Wirkung deren Ursache herbeizubeschwören. Für uns ist Befriedigung Konsumfolge. Der Cargo-Kult der Waren kehrt diese Folge um. Sein treibendes Motiv ist die Kapitalverwertung und damit der Warenverkauf. Er lockt den Kauf durch Simulation unserer Befriedigung an. Eingehüllt in imaginäre Räume der Wunscherfüllung kommen uns die Waren entgegen. Unser Bedürfnis verlangt nach dem Gebrauchswert. Vom Tauschwertstandpunkt sind die Gebrauchswerte an sich gleichgültig. Die Folge ist eine »Logik des Gegenteils« in Gestalt der Warenästhetik: »Das Streben nach abstraktem Reichtum wird zur Quelle, aus welcher der sinnliche Schein sprudelt. Gerade die Gleichgültigkeit des Kapitals gegenüber dem Gebrauchswert äußert sich in dessen phantastischster Inszenierung. […] Die Indifferenz schreit die Differenz heraus.« (KdW, 230) Was immer Menschen begehren oder sich wünschen, hier erhält es imaginäre Präsenz. »Es drängen sich nämlich unabsehbare Reihen von Bildern heran, die wie Spiegel sein wollen, einfühlsam, auf den Grund blickend, Geheimnisse an die Oberfläche holend und dort ausbreitend. In diesen Bildern werden den Menschen fortwährend unbefriedigte Seiten ihres Wesens aufgeschlagen. Der Schein dient sich an, als kündete er die Befriedigung an, er errät einen, liest einem die Wünsche von den Augen ab, bringt sie ans Licht auf der Oberfläche der Ware und in deren gesteigerten imaginären Inszenierungen. Indem der Schein, in dem die Waren einherkommen, die Menschen ausdeutet, versieht er sie mit einer Sprache zur Ausdeutung ihrer selbst und der Welt.« (82)

      Soweit die gelebte Kultur sich dieser Bildersprache anvertraut, wird sie tendenziell zu einem »Feld, in dem es darum geht, in einem nie endenden Prozess ständig neue Unterscheidungen um der Unterscheidung willen zu schaffen, die keinem Inhalt unterliegen, keinen Sinn haben außer dem, anders zu sein als die bisherigen und Platz zu machen für die neuen. In diesem Kaleidoskop-Typ der kulturellen Unterscheidungen ist ›Kultur‹ eigentlich nur noch ein anderer Name für ›Warenästhetik‹.« (s. u., 123)73

      Solcher »Kolonisierung der Lebenswelt« (Habermas) versucht die Frage einer Kulturtheorie auf den Grund zu gehen, die das Kulturelle als Selbstzweckhandeln von Menschen fasst, aber gleichwohl nicht-normativ ist. Sie interessiert sich fürs elementare Präferenzverhalten der Individuen, die ungezählten ›molekularen‹ Unterschiede, die sie machen und bei denen sie sagen: Auf der einen Seite steht das, was mir mehr bedeutet, und die in ihrer Summe das ergeben, was ich die kulturelle Unterscheidung genannt habe. Anders als bei der von Bourdieu untersuchten Konkurrenztechnik der Distinktion, bei der Prestigegewinn durch kontrastierende Abgrenzung von anderen Individuen und Gruppen erreicht werden soll, gilt die Frage nach der kulturellen Unterscheidung denjenigen Momenten, in denen Individuen oder Gruppen sich als Selbstzweck behandeln. Der Unterschied zwischen ›Warenkultur‹, Distinktionsverhalten und Selbstzweckhandeln ist freilich ein analytischer. Er bezeichnet nicht empirische Erscheinungsgruppen, die klar und deutlich voneinander abgehoben sind. Im Gegenteil, die unterschiedlichen und auch antagonistischen Kräfte interagieren fortwährend auf dem kulturellen Feld. Die Warenästhetik versucht, die kulturellen Unterscheidungen ihrer Adressaten auszuforschen und ästhetische ›Trojaner‹ in deren Selbstzweckverhalten einzuschleusen. Und die Individuen und Gruppen, denen es um sich selbst oder auch um ihre Gemeinschaft geht, versuchen einerseits dieser Kolonisierung immer erneut zu entspringen dank einem vielförmig bestückten Arsenal widerspenstiger List, zugleich ist unter Bedingungen entfesselter Konkurrenz die Positivität ihres Selbstzweckstrebens ständig auf dem Sprung, umzukippen in die Negativität des Nicht-so-wie-die-Anderen-sein-Wollens. Unter solchen Umständen wächst dem Satz von Stuart Hall gesteigerte Aktualität zu: »Antagonismus ist die einzige Form, in der das endlos widerspruchsvolle Terrain kultureller Produktion und Artikulation erfasst werden kann« (Hall, AS 3, 151).

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