Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug
Drüber & drunter in Deutschland. Zur 13. Berliner Volksuni 1992
11. Einladendes zur 15. Berliner Volksuni – an die Linke gerichtet (1994)
12. Zur Eröffnung der »1. Volxuni« des Social Forum Tübingen-Reutlingen (2002)
Biermanns Volksuni-Konzert von 1980
Weitere Schriften von W.F. Haug
Feldbesichtigung vorweg
I.
Auf Schritt und Tritt gibt es
zwei historische Notwendigkeiten,
die zueinander in Widerstreit geraten.
Rosa Luxemburg
Es könnte kaum widersprüchlicher zugehen: Kultur gleicht einem Betriebssystem, auf dem alle widerstreitenden Programme der Gesellschaft laufen; zugleich ist dieses Grundlegende dem Kommerz, der es voraussetzt, um den Preis abgemietet, diesem als etwas gefügig zu sein, das abwechselnd Vergnügen zu bereiten oder Würde vorzutäuschen hat. Bei alledem verkörpert ›Kultur‹ einen Anspruch auf Sinn und Erfüllung, der dem Kapital die Herrschaft streitig machen kann. Alle sozialen Emanzipations- oder Befreiungsbewegungen waren und sind zugleich Kulturbewegungen. So zuletzt die weltweite Bewegung, die unter den Losungen »Die Welt ist keine Ware« und »Eine andere Welt ist möglich« aufgetreten ist. Die Achtundsechziger und die neue Frauenbewegung haben regelrecht kulturrevolutionär gewirkt.
Kultur in diesem dritten Sinn existiert nur, solange sie widersteht. Freilich ist damit die Widerspruchsgeschichte, die wir Dialektik nennen, noch nicht zu Ende. Widerstand als solcher ist weder gegen den Umschlag ins Rückwärtsgewandte oder sogar Reaktionäre gefeit noch dagegen, hinterrücks vereinnahmt zu werden, wie es »kaum ein Produkt gibt, das nicht mit Guevaras Konterfei vermarktet« werden konnte (KdW, 348).
Dass solche Widersprüchlichkeit nicht von heute datiert, zeigt eine Bemerkung Johann Gottfried Herders, der als Vater des »modernen Kulturbegriffs« gilt (Perpeet 1976, 1309), in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784. In der Vorrede spricht er distanziert von dem, »was wir Kultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten […]. Nichts ist unbestimmter als dieses Wort, und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem kultivierten Volk kultiviert?« Damit ist das Stichwort der »Kultivierung« gefallen, in der sich gut bürgerlich aller Fortschritt zur »Humanität« zusammenzieht. Herder sieht die Triebkraft auf diesem Weg, nicht jedoch den in ihr wohnenden Widerspruch1. Die »Schlussanmerkung« zum 20. Buch beginnt mit der Frage: »Wie kam also Europa zu seiner Kultur und zu dem Range, der ihm damit vor andern Völkern gebühret?« Sie mündet in die Antwort, dass »die neue Kultur Europas […] nur eine Kultur der Menschen wie sie waren und sein wollten« sein konnte, »eine Kultur durch Betriebsamkeit, Wissenschaft und Künste«. – Inzwischen hat die kapitalistische »Betriebsweise« (Marx) der Kultur das bürgerliche Projekt längst ihren Marketingabteilungen zugeordnet. Wenn zur Zeit der Französischen Revolution noch das Kapital als Allegorie der Kultur diente, so dient heute die Kultur dem Kapital als allegorisches Material.
Dieser Umschlag der Kräfteverhältnisse widerfuhr dem bürgerlichen Kulturprojekt nicht von ungefähr. Die Kraft, die die Kultur sich unterworfen hat, ist keine andere als diejenige, die sie zur obersten Kategorie des bürgerlichen Selbstverständnisses erhoben hatte. Die bürgerliche Gesellschaft ist die erste in der Geschichte, die ihr Wesen als ›Kultur‹ ausgesprochen hat. Wie alle anderen frühen Hochkulturen verfügte die klassische Antike weder über einen Begriff von ›Kultur‹ noch einen von ›Kunst‹, obwohl sie doch – in unseren Augen! – beides auf eine Weise geschaffen hat, die der bürgerlichen Gesellschaft seit der Renaissance und vollends der Aufklärung als kanonisches, eben klassisches Vorbild diente. Doch wie das feudale Mittelalter nicht von der Religion leben konnte, so die bürgerlich-kapitalistische Moderne nicht von der Kultur. Gerade weil sie aus ihrem Kerngeschäft das Kulturelle als Autonomes verbannt, wies sie ihm eine eigene Sphäre zu, in der sie ihre Ideale hegte und sich geschichtlich legitimierte. Das macht verständlich, wieso diese illusionäre Form, in welcher der Kommerz sein idealisches Gegenteil unter dem Namen Kultur als sein Wesen vorschiebt, dessen kritischen Anspruch nicht völlig ersticken könnte, ohne es um seine Wirkung zu bringen. Es wirkt nur, solange der Anspruch aufrechterhalten bleibt, dass es um seiner selbst willen an die höchste Stelle gerückt und ein Kult darum betrieben werde.
Angesichts des Ersten Weltkriegs, der bürgerlichen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, schrieb Rosa Luxemburg: »Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« (GW 4, 53) Das ist wahr und doch nur einer der Pole der Wahrheit. Bereits Marx hat allzu pauschal den ›verschönerten Schein‹ der bürgerlichen Verhältnisse verworfen. Auch fürs Sein der bürgerlichen Gesellschaft gilt Hegels Satz, dass ihm »das Scheinen wesentlich« ist. Ernst Bloch hat den Blick darauf gerichtet, wie hier Entwürfe einer anderen Welt zum Vorschein kommen. In ›Kultur‹ und ›Kunst‹ dachten die klassischen Bürger hinein, was über ihre gesellschaftliche Existenzgrundlage hinauswies. Hier deponierten sie ihre Träume. Die Kultur hatte für sie die Nachfolge der Religion angetreten. So wurde die Kultursphäre zum Behältnis künstlerischer und philosophischer Entwürfe, die von der kapitalistischen Grundlage zur bloß illusionären Existenz verdammt sind. Ihr Moment ist nie und immer, ihr Reich nirgends und überall. Dem Geld und der Gewalt gehört jeder Augenblick, »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«2 Zugleich weist dieses real und doch nur imaginär, als Bildungsgut Bleibende beharrlich über jene Grundlage hinaus.
Was diese Gesellschaft der Privategoismen an der ›Kultur‹ festhält, ist gerade deren dumpf vorgestellter Gegensatz zu ihr, das Gefühl, Kommerz und Konsum könnten doch ›nicht alles gewesen sein‹. Wenn sie ihr Wesen imaginär in die ›Kultur‹ setzt, so ist dies unwahr, bloßer Schein, doch kann der bloße Schein von Wahrheit mehr von dieser enthalten als das Sein. Wenn nach Luxemburgs Einsicht die »geistige Kultur« immer »eine Schöpfung der herrschenden Klasse« ist und es im Kapitalismus »keine andre Kultur geben [kann] als bürgerliche«, so erklärte sie es aufgrund des Doppelcharakters der bürgerlichen Kultur gleichwohl zur Aufgabe der sozialistischen Arbeiterbewegung, »die Kultur der Bourgeoisie vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion [zu] schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung [zu] schaffen« (GW 1/2, 367).3