Die kulturelle Unterscheidung. Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug


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dieser Mächte mit dem Kulturellen in der Spannung von Unterwerfung und Widerstand fragt, seine Trilogie zur zeitgenössischen Kultur ab. Einige der Kapitel entstammen der Zeit der Krise des Fordismus und muten die ›Übersetzung‹ in zeitgenössische Materialien und Frontstellungen zu. Im Ringen mit dem sowjetisch geprägten Marxismus-Leninismus ging es damals unter anderem darum, eine neu an Marx, Brecht und die »Linie Luxemburg-Gramsci« (Peter Weiss) anknüpfende geschichtsmaterialistische Kulturauffassung und emanzipatorische Politik des Kulturellen auszubilden. Andere Kapitel tragen die Spuren der Periode des Übergangs zu dem, was inzwischen als transnationaler Hightech-Kapitalismus unseren Alltag bestimmt. Diese älteren Texte sind überarbeitet und in Teilen umgeschrieben. Dass die Wurzeln der vorliegenden Schrift und zumal ihres Leitbegriffs mehr als dreißig Jahre zurückreichen, situiert sie am Gegenpol zu jener beschleunigten Zirkulations- und Veraltungszeit von Kulturthemen, in der eine »regelkreisähnliche Schließung« von Medienkultur und Wissenschaftskultur zum Ausdruck kommt (Lindner 2000, 98). Kein ›Heute neu!‹ bestimmt den Tenor, sondern der Versuch, der emanzipatorischen Seite im Ringen um kulturelle Hegemonie und ihrer Politik des Kulturellen und politischen Kultur zuzuarbeiten. Die aus zwei Jahrzehnten stammenden Texte zur Konzeption der Volksuni zeigen diese als Praxisfeld und spiegeln zugleich den epochalen Übergang jener Jahre.

      Danksagung

      Eine große Hilfe waren mir die Einwendungen und Anregungen von Thomas Barfuss, Frigga Haug, Peter Jehle und Bernd Jürgen Warneken. Jan Loheit, der das ganze Buch lektoriert und die Register erstellt hat, Ingo Lauggas und Kamil Uludag unterstützten mich darüber hinaus bei der Materialbeschaffung. Daniela Hammer-Tugendhat und Ivo Hammer haben mir mit Ratschlägen zum Holbein-Exkurs geholfen. Martin Grundmann hat mit Geduld und Sorgfalt den Umschlag und die Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.

      Erstes Kapitel

      Kulturtheorien ohne Kulturbegriff

      Vor allem – das ist ein »Passwort« –: wo ist Marx?

       Stuart Hall (2008b)

      Dass ›Kultur‹ als Allerweltswort fungiert, ist oft bemerkt worden. Seine Vieldeutigkeit spiegelt die »Inkompatibilität der vielen Denklinien, die historisch im selben Ausdruck zusammengekommen sind« (Bauman 1973, 1). Die einen verstehen darunter alles, was nicht Natur ist;1 andere haben das konkrete Wie menschlicher Lebensgestaltung im Sinn; dritte engen die Bedeutung weiter ein auf »symbolisches Handeln« (Geertz 1987, 16)2, wieder andere auf Wertsysteme. Oft bedeutet die »›cultured‹ person«, also der ›Gebildete‹, schlicht das Gegenteil des ›Ungebildeten‹, »the ›uncultured‹ one« (Bauman 1973, 7). ›Kultur‹ ist dann einfach ein anderer Name fürs Reich der ›höheren Bildung‹ oder, enger noch, der ›Kunst‹. Die erste Bestimmung mit der Entgegensetzung Kultur/Natur umfasst so viel, dass sie nichtssagend wird. Die zweite, nicht weniger umfassend, etwas konkreter fragend, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht (darauf gehen wir gleich näher ein). Die dritte bleibt in der Symbolabstraktion3, die vierte im Wertehimmel hängen: Es ist der Blick von oben, der daraus, dass das Kulturelle den Menschen etwas bedeutet oder für sie wertvoll ist, den Vorgang entobjektiviert und entmaterialisiert und nurmehr Zeichen und Werte übrigbehält. Dadurch verkehrt sich deren Abstammung vom Konkreten in dessen Ableitung aus ihnen.4 Wie ein Gleichnis dafür liest sich eine Beobachtung des mexikanischen Schriftstellers Rafael Argullol: Eingeladen zur Feier anlässlich der Verleihung des Titels »immaterielles Weltkulturerbe« an die mexikanische Küche, stieß ihm die idealistische Verhimmelung auf, da ihm wie jedem, der seine Sinne beisammen hat, »die äußerst wohlschmeckende mexikanische Küche kaum ›immateriell‹ erschien« (2010). Das Kunstparadigma von Kultur schließlich verliert die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder aus dem Blick, und indem sie die nach Klassenlage gestufte Kultur »anhand einiger geweihter Objekte« beredet (Althusser 1967/1985, 46), legitimiert sie damit indirekt die Herrschaftsverhältnisse.

      Am klarsten scheinen die Ethnologen zu sprechen, die davon ausgehen, »dass Kulturen immer im Plural existieren« (Hauck 2006, 7). Der den Sinn bestimmende Gegenbegriff zu Kultur ist damit weder die Natur noch die Kulturlosigkeit, sondern die je andere Kultur. Das war relativistisch-befreiend angesichts eines Universalismus, dessen Gewalt-, ja Vernichtungspotenziale gegen das Besondere ans Licht getreten waren. Doch dann hat das Blatt sich wiederum gewendet, und der »ursprünglich ausdrücklich als Gegenbegriff zu dem der Rasse« in die US-amerikanische Sozialwissenschaft eingeführte pluralisierte Kulturbegriff hat »den Rassebegriff abgelöst als zentrales Rechtfertigungsargument für Diskriminierung und Unterdrückung aller Art« (8). Dagegen kämpft heute der Mainstream durch die Dekonstruktion homogener Ethno-Vorstellungen an, indem er querliegende Teilungen und Verbindungen (nach Klasse, Geschlecht usw.) oder transnationale Intellektuellenkulturen herausarbeitet, Elemente sozialer Konstruiertheit in Selbst- und Fremdbildern von Ethnizität hervorhebt, sowie gegenüber statischen Auffassungen von Kultur deren Fluidität betont als eine in der praktischen Aneignung stets mitvollzogene Umgestaltung.

      Die ›Pluralität der Kulturen‹ wanderte von der Ethnologie – im ›kulturanthropologischen‹ Sinn einer Kunde von fremden Völkerschaften – zur ›ethnomethodologischen‹ Erforschung der eigenen Gesellschaft, zur »Binnenethnologie«, als deren »wohl wichtigste Zielsetzung […] das Dolmetschen« zwischen »Klassen und Schichten komplexer Gesellschaften« gelten kann (Warneken 2006, 340). Den Platz der Kulturtheorie nimmt dann die ›Ethnographie‹ ein.5

      Werden wir mit Paul Willis (2009, 149f) aus


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