Tod im Kirnitzschtal. Thea Lehmann
wenn Sie bayerische Knödel wollen, könn’ Se die bestimmt im ›Kaufland‹ kriegen, die ham da mehr Auswahl als wir«, sagte seine dann zögernd. Reisinger war am Verzweifeln. »Nein, bitte, ich nehme die hier.« Er schob die Packung mit den Thüringer Klößen noch ein bisschen näher zu ihr hin.
»Aber wenn Sie die Packung offmachen, kann ich sie nicht mehr umtauschen!«, warnte sie ihn, bevor sie die Packung endlich über den Scanner zog. Reisinger nickt erleichtert und beeilte sich, seine Einkäufe einzupacken.
»Na dann, gutes Gelingen!«, rief es hinter ihm her, als er endlich aus dem Laden konnte. »… und geröstete Weißbrotwürfel müssen unbedingt rein in die Klöße!«, ermahnte ihn die ältere Dame, bevor er endlich zur Türe hinaus war.
An diese Art von Gesprächen hatte er sich langsam gewöhnt, und es jagte ihm keine peinlichen Schauer mehr über den Rücken, wenn sich plötzlich wildfremde Menschen in Gespräche einmischten. So waren sie halt, die Sachsen, leutselig und immer zu einem Gespräch bereit.
Heute schaffte er seinen Einkauf ohne große Diskussionen.
Er machte sich ein leichtes Abendessen, duschte, zog sich um und prüfte noch einmal auf seinem Smartphone, ob es Anrufe gegeben hatte. Kurz vor acht Uhr machte er sich, fröhlich vor sich hin summend, auf den Weg in die von Mandy ausgewählte Kneipe.
Sandras Stiefel hatten Löcher; gleichmäßige viereckige Löcher. Leo nahm das neue Schuhwerk seiner Kollegin schweigend zur Kenntnis. Natürlich waren sie schwarz wie der Rest von Sandras Kleidung. Er selbst hatte leichte Leinenschuhe gewählt, denn es würde wieder heiß werden an diesem Augustfreitag. Gerichtsmediziner Dr. Gräber kam und bat sie in sein Büro. Er war ein hagerer, großer Mann mit einer spitzen Nase, kleinen, flinken Augen und einer deutlichen Stirnglatze. Leo Reisinger begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, schließlich hatte er schon öfter mit Dr. Gräber zusammengearbeitet. Auch Sandra Kruse kannte Gräber von früheren Fällen, aber die lagen alle vor ihrer Zombie-Phase.
»Guten Morgen, Herr Doktor«, sagte Sandra freundlich. Dr. Gräber sah sie fragend an. »Sind Sie neu bei der Kripo?«
»Nein, Herr Doktor«, sie lächelte ihn an.
Dr. Gräber breitete einige Fotos und eine Akte vor ihnen aus. »Der Fall ist insofern interessant, als der Mann bisher noch nicht identifiziert ist und eine merkwürdige Kette von Ursachen zu seinem Tod geführt hat, bei der ich den Zufall ausschließen würde.« Sandra zückte Stift und Schreibblock.
»Der Tote hat starke Prellungen hier am rechten Brustkorb und an den Oberarmen. Die Obduktion hat ergeben, dass er sich eine Rippe gebrochen hat, die sich unglücklich in das Lungengewebe gebohrt hat. Ohne Behandlung kann so eine innere Verletzung durchaus zum Tode führen, aber daran ist der Mann nicht gestorben.«
Reisinger sah ihn interessiert an. »Woran ist er dann gestorben?«
»Meine Untersuchung hat ergeben, dass er Ibuprofen und eine ziemlich große Dosis Benzodiazepine im Blut hat, die auch zu einer allergischen Hautreaktion geführt hat.«
Sandra sah ihn fragend an. Leo Reisinger erklärte: »Eine große Dosis Valium, gegen das der Tote aber gleichzeitig allergisch war.«
Dr. Gräber nickte.
»Ist das eine häufige Allergie?«, fragte Reisinger. Er fühlte sich selbst ein wenig, als wenn er Valium genommen hätte, aber nach nur drei Stunden Schlaf war das wohl normal.
»Nein, äußerst selten.«
»Was ist denn das für ein Unsinn«, schimpfte Sandra. »Wer nimmt denn so was ein, wenn er dagegen allergisch ist?«
Dr. Gräber schaute sie interessiert an. »Vielleicht wusste er nicht, dass er dagegen allergisch ist. Das Interessante ist, dass er auch daran nicht gestorben ist, obwohl er es möglicherweise hätte können. Wir wissen nicht, wie heftig sich die allergische Reaktion entwickelt hätte, denn zuvor erlitt er eine Suffocatio, er ist erstickt!«
Reisinger war plötzlich hellwach. Das klang ja interessant. »Definitiv, Herr Doktor? Er ist erstickt? Wie sieht es mit Fremdeinwirkung aus?«
»Kann ich nicht feststellen: kein Fremdkörper in der Luftröhre, kein Kohlenmonoxyd, kein Schwefelwasserstoff, keine Blausäure im Blut. Die Atemwege waren weder verschleimt noch versperrt, etwa durch die Zunge oder Fremdkörper. Das ist wirklich ungewöhnlich, habe ich Ihnen ja schon gestern gesagt. Der Mann ist zudem am gestrigen Morgen alleine in einer verschlossenen Straßenbahn gefunden worden. Todeszeitpunkt, na so zwischen 19 und 21 Uhr am Mittwochabend.«
»Sie können keinerlei Gewalteinwirkung feststellen?«
»Nichts«, sagte Dr. Gräber. »Er ist weder geknebelt noch erdrosselt worden, trotzdem zeigen die chemische Blutanalyse und der Zustand der Lungen eindeutig, dass er erstickt ist.«
»Demnach hätte er sich also in einem luftdichten Raum, wie einer Kiste oder einem großen Fass, befinden müssen, um spurenlos zu ersticken?«
»Zum Beispiel«, nickte Dr. Gräber.
»Hatte er irgendetwas bei sich?«
Dr. Gräber verneinte. »Seine Kleidung, sonst nichts. Keine persönlichen Gegenstände, die helfen würden, ihn zu identifizieren.«
»Interessante Spuren?«
»Die Kleidung ist ein wenig sandig, aber das ist bei jemandem, der im Elbsandsteingebirge herumläuft, nicht ungewöhnlich. Da, wo die Rippe gebrochen ist, ist das Hemd etwas aufgeraut und ebenfalls sandig, das deutet darauf hin, dass der Stoff mit Sandstein in Kontakt gekommen ist.«
Reisinger überlegte. »Also, entweder wurde er mit einem Stein geschlagen oder er ist auf einen Stein gefallen.«
»So würde ich das auch sehen. Die Hände haben ebenfalls leichte Schürfspuren, das könnte von verschiedenen mechanischen Belastungen her kommen. Ein eindeutiges Bild gibt es nicht.« Dr. Gräber wollte seine Akte zuklappen.
Der Kommissar fasste zusammen: »Moment. Der Mann wurde also erst verletzt, dann mit Valium vollgepumpt, reagierte allergisch und ist schließlich erstickt. Alles ohne Hinweise auf einen Kampf oder Gewalt?«
»Genau. Das könnte eine Verkettung unglücklicher Zufälle sein, aber ich kann mir nicht erklären, wie ein Mensch ohne fremdes Zutun erstickt. Ich gehe davon aus, dass jemand nachgeholfen hat. Die Frage ist nur, wie und warum. Aber das ist nun Ihre Aufgabe, nicht meine.« Dr. Gräber klappte seine Mappe mit den Unterlagen endgültig zu.
»Können wir die Leiche kurz sehen und Fotos machen?«, fragte Sandra.
Dr. Gräber führte sie in das Tiefgeschoss zu den Labors und Kühlräumen. Nach der sommerlichen Wärme draußen war es hier unten empfindlich kalt. Ein Assistent zog die Schublade mit dem Toten auf. Sandra machte Fotos von seinem Gesicht, während sich Reisinger die blauen Flecken und die Hände genau ansah. Da waren ein paar kleine Schürfwunden an der Handinnenfläche, unter den Fingernägeln waren Sand und Erde. Trotz des Eintagebartes sah der Mann gepflegt aus. Reisinger schätzte ihn auf etwa 55 bis 60. Kommissarin Kruse war fertig mit den Fotos. Während Reisinger noch die Leiche betrachtete, traten Dr. Gräber und sie ein wenig zur Seite.
»Herr Doktor!«, Sandras belustigt-empörte Stimme riss ihn aus seiner Betrachtung.
Reisinger schaute auf und sah Gräber und Sandra recht vertraut miteinander sprechen. Der magere Dr. Gräber warf sich gerade mächtig ins Zeug. Sandra kicherte, aber es hörte sich für Reisinger gekünstelt an.
Der Kommissar nickte dem Assistenten zu, und der schob den Toten samt seiner Liege wieder in die Kühlung. Dr. Gräber und Sandra sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ein ungewöhnlicher Fall, nicht wahr?« Dr. Gräbers Augen blitzten unternehmungslustig.
»Dann versuchen wir mal herauszubekommen, was hier passiert ist.« Reisinger ging zur Tür, und Sandra Kruse beeilte sich, ihm zu folgen.
»Zuerst hören wir uns am Fundort um. Vielleicht ist ja inzwischen schon eine Vermisstenanzeige da, und wir können ihn wenigstens identifizieren. Auf