Tod im Kirnitzschtal. Thea Lehmann
so auf und sagen Sie mir genau, wie diese letzte Fahrt am Mittwochabend abgelaufen ist.« Adele Schuster schnäuzte sich kräftig die Nase, straffte den Oberkörper, wischte sich die blonden Haare aus der Stirn und begann nochmals, den Mittwochabend zu rekapitulieren: Wie sie nach der halben Stunde Wartezeit am Lichtenhainer Wasserfall die Fahrscheine von sechs Fahrgästen kontrolliert und zwei Fahrscheine verkauft habe. Wie sie dann losgefahren sei und sich gewundert habe, dass an der nächsten Station, am Beuthenfall, tatsächlich wieder jemand ausgestiegen sei. Wie sie dann auf halber Strecke noch einmal am Forsthaus und dann nur noch am Stadtpark gehalten habe, wo die letzten Fahrgäste ausgestiegen wären.
Ob sie die Personen, die eingestiegen seien, beschreiben könne. Adele Schuster dachte nach.
»Da waren zwei junge Kerle mit Kletterrucksäcken, die hatten ’ne Tageskarte, und zwei ältere Paare. Eins von den Paaren ist am Forsthaus ausgestiegen, die hatten auch ’ne Tageskarte.«
»Wem haben Sie dann den Fahrschein verkauft?«, wollte Leo wissen.
Adele Schuster konzentrierte sich. »Die meisten kaufen ihre Tickets ja schon in Schandau. Es passiert selten, dass jemand nur in eine Richtung fährt. Ich glaube, das war ’n älterer Mann, der die zwei Fahrscheine gekauft hat.«
»War das der Tote?«, fragte Reisinger.
»Nee, dann hätte ich den doch erkannt. Das war jemand anderes. Komisch, jetze, wo Sie mich fragen, kann ich mich gar nicht an sein Gesicht erinnern. Bloß, dass der eher klein und zierlich war für ’nen Mann. Der hatte dunkle Sachen an und eine Mütze off. Ich kann nicht mal sagen, wie alt der war, weil ich sein Gesicht nicht richtig gesehen hab. Aber wahrscheinlich älter. Sind ja elend viele Leute, denen man den ganzen Tag begegnet.«
»Aber der war jedenfalls nicht allein?«, hakte der Kriminalkommissar nach.
»Nee, ich weiß genau, dass im hinteren Wagen zwei Leute saßen. Nebeneinander. Die sind aber eben am Beuthenfall ausgestiegen. Ich erinnere mich deswegen, weil da normalerweise niemand aussteigt, wenn wir zurückfahren. Die Strecke ist ja nicht lang, normalerweise kann man das in fünf Minuten zu Fuß schaffen. Trotzdem sind die gefahren.«
»Und Sie sind sicher, dass beide an der Station ausgestiegen sind?«
»Bestimmt! Am Nassen Grund macht die Straße eine 180-Grad-Kurve, da kann ich immer sehen, wer noch hinten im Wagen sitzt, und da war keiner. Ich schwör’s!« Adele Schusters Stimme hatte wieder angefangen bedenklich zu flattern. »Abends sieht man genau, was in den beleuchteten Waggons los ist. Sie müssen mir glauben!«
Reisinger versuchte sie zu beruhigen. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Ich versuche nur rauszubekommen, was wirklich passiert ist.«
Als Nächste mussten Neusche, dann Didi, der eigentlich nichts beizutragen hatte, berichten.
Leo Reisinger nahm Kunath bewusst als Letzten dran, um ihn schmoren zu lassen.
»Nun, Herr Kunath, erzählen Sie bitte noch mal genau, wie Sie den Toten gefunden haben.« Leo hatte es sich auf Neusches Bürostuhl leidlich bequem gemacht.
»Hab ich alles schon den zwei Polizisten erzählt«, winkte Kunath ab. »Jetzt sagen Se bloß mal, wie der umgebracht worden sein soll. Hat doch nüscht gefehlt bei dem, sah doch heile aus?«
Leo seufzte: »Er ist an einer Verkettung von mehreren Ursachen gestorben. Genauer: er ist erstickt.«
Kunath kratzte sich am Kopf. »Das soll funktionieren?«
»Haben Sie in der Straßenbahn irgendetwas gesehen, was ungewöhnlich war?«
»Nu, ’ne Colaflasche, so was liegt sonst nicht rum«, sagte Kunath.
»Ich wüsste nicht, wie man damit jemanden ersticken sollte«, meinte Reisinger, »und aufbewahrt haben Sie die sicher auch nicht, oder? Falls sie dem Toten gehörte, wäre die schon interessant gewesen.«
Kunath schüttelte den Kopf. »Nee, die hab ich in den Müll geworfen am Stadtpark vorne. Der Papierkorb wird jeden Tag geleert. Die könn’ Se vergessen.« Reisinger sah das auch so.
»Erstickt«, wiederholte Kunath gedankenverloren. »Nu, die Straßenbahn ist jedenfalls nicht so luftdicht, dass da einer ersticken könnte. Obwohl die Luft am Sonntagnachmittag, wenn die Boofer aus ’m Wald kommen, manchmal schon ganz schön dicke ist.«
»Wenn wer aus dem Wald kommt?« Leo Reisinger versuchte, schulbuchmäßig Vertrauen aufzubauen. Dieser Kunath wusste vielleicht doch mehr, als es schien.
»Na, die Boofer.« Er sah, dass der Kriminalkommissar mit diesem Begriff nichts anfangen konnte. »Leute, die im Wald übernachten. Das machen hier viele, dafür gibt’s die Boofen.«
»Aha«, brummte Reisinger; er wollte zurück zum Thema.
»Wie es genau vor sich gegangen ist, wissen wir noch nicht. Der Fall ist ungewöhnlich. Der Mann hatte nämlich auch noch eine gebrochene Rippe und blaue Flecken am ganzen Körper.«
»Ich an Ihrer Stelle würde mal bei den Boofern nachfragen. Mit denen hat der nämlich Ärger gehabt. Das ist mir heute Morgen wieder eingefallen«, sagte Kunath.
Reisinger schnellte aus dem Bürostuhl. »Sie kennen den Mann?«
»Nu«, sagte der Straßenbahnfahrer. Leo Reisinger legte verzweifelt die Hand an die Stirn. Dieses »Nu« machte ihm echte Probleme. Die Sachsen benutzten es ständig, aber nie wusste er, wie es gemeint war. War es ein »Ja«, ein »Nein«, ein »Vielleicht«, oder bedeutete es gar nichts? Er versuchte ruhig zu bleiben.
»Also was jetzt, ja oder nein?«
Kunath machte es sich auf seinem Platz gemütlich. »Nu, kennen ist zu viel gesagt. Ich hab ihn ein oder zwei Mal in diesem Sommer gesehen. Und einmal hat der sich mit Boofern in der Wolle gehabt.«
»Wissen Sie, wie er heißt?«
»Nee!«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Nee!«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Reisinger wartete gespannt auf eine Antwort und starrte Kunath an.
Der zog ein schiefes Gesicht. »Möglicherweise vor zwei Wochen, oder vielleicht drei. Ich weiß bloß, dass der Maik stinksauer auf den war und die sich am Parkplatz vom Nassen Grund angeschrien haben.«
»Und wer ist der Maik?«
»Ä Boofer.«
»Und?«
»Und nüscht!«
»Jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!« Reisinger war aufgestanden, hatte sich auf den Schreibtisch gestützt und schwebte bedrohlich nahe über Kunath.
Dieser sah, dass der Kommissar jetzt wirklich sauer war, und zog den Kopf ein.
»Wir ermitteln hier in einem wahrscheinlichen Mordfall, und Sie kippen mir wichtige Informationen in Minibröckchen vor die Füße. Können Sie nicht einfach erzählen, was Sie über den Toten und diesen Maik noch wissen?«
Jetzt war Kunath sichtlich beleidigt. »Ich weiß nicht mehr. Ich weiß bloß, dass der Maik heißt, weil der Kevin ihn Maik nennt. Den Kevin kenne ich ooch nur als Kevin, weil die seit Jahren ungefähr jedes zweite Wochenende im Sommer zum Boofen in den Wald fahren. Die sind aus Dresden. Mehr weiß ich nicht.«
Kunath sah auf seine Uhr. »Ich hab jetzt Feierabend. Wie lange soll das hier noch dauern?«
»Bis wir fertig sind«, brummte Leo Reisinger.
Sandra arbeitete inzwischen an der Ostrauer Mühle, beim Campingplatz, im Gasthof Forsthaus und im Gasthof Lichtenhainer Wasserfall mittels Frageliste und Fotos ab, ob jemand den Toten kannte oder am Mittwoch etwas Auffälliges passiert war. Überall stand sie im Weg, denn die Tische in und vor den Lokalen waren gut besucht, und die Bedienungen flitzten hin und her. Am Campingplatz war noch Ruhezeit, hier konnte man erst ab 16 Uhr wieder einchecken und einen offiziellen Vertreter antreffen. Der Platz lag leer und verlassen,