Tragödie im Courierzug. Uwe Schimunek

Tragödie im Courierzug - Uwe Schimunek


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seiner Schritte eine Pfütze. Zum Glück musste er nur bis ins erste Obergeschoss. Ferdinand nahm je zwei Stufen mit einem Schritt, bog in den Gang ein und riss die Tür zum Zimmer auf. Obwohl der Ofen nicht befeuert war, überwältigte ihn die Wärme. Es fühlte sich nicht wie Frühling an, auch nicht wie Sommer – ein Zuhause war so etwas wie eine Jahreszeit für sich, dachte Ferdinand. Selbst wenn es sich nur um eine Bude in der Kaserne handelte.

      Gewöhnlich teilte Ferdinand sich das Zimmer mit einem anderen Lieutenant. Der, ein schweigsamer und nicht besonders heller junger Mann namens Alfons von Zwiewitz, hatte gerade Sonderurlaub und weilte in seiner oberschlesischen Heimat, da sein Vater im Sterben lag. So hatte Ferdinand die Bude für sich allein und konnte sich ausbreiten. Er legte das Bündel auf den Tisch und breitete das Textil aus. Einzelne Stofffetzen brachen sogleich aus dem Überzieher. Ferdinand legte die Pickelhaube, welche die Witterung gut überstanden hatte, zur Seite und wandte sich den Resten des Waffenrocks zu. Die Platte reichte für den modrigen Stoff kaum aus, also stapelte er die Stücke, die zu zerfallen drohten, am Rand. Doch auch beim Rest waren Farbe und Form kaum auszumachen. Nicht einmal die Waffengattung konnte er anhand der Schulterklappen identifizieren. Wie sollte er da Rückschlüsse auf den ehemaligen Träger des Kleidungsstücks ziehen?

      Ferdinand zog den Schemel herbei und setzte sich. Der Stoff auf dem Tisch sah aus wie direkt aus dem Komposthaufen gezogen. Genauso roch es inzwischen in der gesamten Stube. Abgesehen von dem Helm und dem zerfallenden Waffenrock, hatte Ferdinand keinerlei Hinweise darauf, wessen Leichnam in der Hecke an der Oderaue lag und vor sich hin verweste. Offenbar handelte es sich um einen Soldaten Seiner Majestät. Doch davon gab es allein in Breslau Tausende. Möglicherweise hatte der Mann auch gar nicht in Breslau gewohnt, sondern war zu Besuch in der Stadt gewesen. Wo sollte Ferdinand unter diesen Umständen mit seinen Nachforschungen anfangen? Vielleicht führten diese Gedanken aber auch zu weit, und es war am besten, er suchte die Lösung weiterhin vor sich auf dem Tisch, auch wenn sie in einem Haufen Kleidung steckte, der seinerseits einen ziemlich aufgelösten Eindruck machte. Ferdinand musste bei dem Gedanken schmunzeln, dass sich die Lösung gerade vor seinen Augen auflöste. Doch vielleicht wies das Wortspiel durch die innere Logik, die Grotesken so häufig innewohnte und den Scherz erst ermöglichte, auf etwas hin.

      Ferdinands Aufmerksamkeit hatte bisher dem Äußeren des Waffenrocks gegolten. Aber womöglich sollte er eher im Innern nach einem Hinweis suchen. Ferdinand riss Stück für Stück den Stoff von dem Kleidungsstück und legte die Fetzen zum Moderkram am Rand der Tischplatte. Da war etwas! Im Futter der Brustpartie fühlte er einen Gegenstand. Ein Etui? Unter dem Futter befand sich eine Tasche. Ferdinand riss einen Streifen Stoff ab, und Leder wurde sichtbar. Das Fundstück hatte die gleiche Farbe angenommen wie die Textilien, ein Braungrau, als wäre der gesamte Fund von einem zu groß geratenen Regenwurm verdaut worden. Ferdinand hob den Gegenstand vorsichtig hoch. Es handelte sich nicht um ein Etui, sondern um ein Notizbuch. Der Einband zeigte keinen Aufdruck, weder Initialen noch ein Wappen oder Ähnliches. Auf der ersten Seite konnte Ferdinand die Schrift allenfalls erahnen, zu verblichen war die Tinte und zu verlaufen auf dem klammen Papier.

      Es klopfte an der Tür.

      »Ja, ja!«, rief Ferdinand und sprang auf.

      Ein junger Corporal polterte ins Zimmer und meldete: »Herr Lieutenant von Gontard, mich schickt die Poststelle mit einer telegraphischen Nachricht.«

      Ferdinand merkte, wie sein Herz ein wenig schneller schlug.

      Der Junge reichte ihm einen Zettel.

      Ferdinand las:

       Komme zum Wochenende – Stopp – Ankunft morgen mit Schnellzug – Stopp – Vater – Stopp

      Wenn Quappe stand, sah er völlig gesund aus. Ein ganz anderes Bild gab sein Gang ab. Der Stallbursche hinkte nicht einfach nur, seine ganze Körperhaltung wirkte, als bewältige er seine letzten Schritte. Ferdinand ging dieses Verhalten auf die Nerven. Vielleicht wäre ein Mädcheninternat die bessere Adresse für den Kerl! Doch Ferdinand ertrug das Gehabe, denn er wollte unbedingt mit jemandem reden, bevor er erneut zu Generalmajor von Frohwitz ging.

      »Und Sie bezahlen det Bier?«, vergewisserte Quappe sich.

      »Wenn wir jemals in der Wirtschaft ankommen, dann ja.«

      Prompt humpelte Quappe schneller. Sie schritten am neuen Schauspielhaus vorbei, über die Schweidnitzer Straße in Richtung Großer Ring. Der Verkehr wurde immer dichter, daher drängten sie an den äußersten Wegesrand. Hier standen zwar Bettler und Kolporteure herum, aber Quappe hätte den Droschken und Reitern in der Straßenmitte mit seinem verletzten Fuß nicht schnell genug ausweichen können.

      Vor der Brücke über die Ohle kam ihnen eine Gruppe Nonnen entgegen. Die Frauen schritten stumm, und dennoch machten alle Passanten sofort Platz. Quappe und Ferdinand waren gezwungen, kurz anzuhalten. Der Stallbursche rollte mit den Augen. Ferdinand wusste, dass Quappe mit dem Verkleidungsbohei der Katholiken nichts anfangen konnte, aber Breslau war Bischofssitz, da liefen eben Nonnen durch die Stadt. Immerhin beeilte Quappe sich in der Folge noch etwas mehr.

      Nach der kleinen Brücke über den Fluss wurde die Straße ein wenig breiter, und gleich nach dem alten Schweidnitzer Thor hatten sie es geschafft. Während die Massen zu Fuß, zu Pferde oder im Wagen weiter in Richtung Großer Ring strömten, bogen sie in die Junckherrngasse ein. Dabei sah Ferdinand aus dem Augenwinkel einen Soldaten in der Menge. Den kannte er doch! Woher, fiel ihm aber nicht ein.

      Quappe humpelte hurtig vornweg, sicher zog ihn das Bier an.

      Ferdinand blieb keine Zeit, weiter über den Mann in Uniform nachzudenken. Schon nach ein paar Schritten in der Junckherrngasse erreichten sie die Wirtschaft »Zur Goldenen Gans«. Es handelte sich um eine bei Soldaten beliebte Bierschenke. Ferdinand und Quappe tranken hier des Öfteren ein Glas zusammen. Auch in dieser Kneipe lauschten natürlich die Ohren Seiner Majestät, dennoch verkehrten aufgeklärte Geister wie die Dichterin Friederike Kempner in der »Gans«. Vielleicht lag es am Schankwirt, denn der achtete strikt darauf, dass jeder trank – immer. Ferdinand wusste nicht, warum, aber nie wagte ein Gast zu widersprechen. Lieber verließen die grauen Gestalten das Lokal.

      Ferdinand öffnete die Tür, und ein Schwall Kneipenluft schlug ihm entgegen. Es roch, als sei eine ganze Lieferung Tabak verbrannt worden. Er trat in die Wolke, Quappe folgte ihm.

      In der Wirtschaft schlugen vielleicht ein Dutzend Männer den Nachmittag tot, eine eigentümliche Mischung aus Offizieren und Schutzmännern mittleren Ranges, Bürgersleuten und Gesindel. In der Ecke brüllten ein paar Studenten, die Schärpen einer Verbindung trugen. In wenigen Stunden würden sie aus der Vielzahl der abendlichen Kneipenbesucher kaum noch herauszuhören sein.

      Ferdinand mied normalerweise die Nähe zu den jungen Verfechtern der deutschen Sache nicht, doch jetzt hatte er etwas Dringendes mit Quappe zu besprechen und nahm an einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke Platz. Kaum saßen sie, stellte der Wirt zwei Humpen Bier auf den Tisch. Ferdinand bedankte sich und zog das Notizbuch aus dem Waffenrock.

      »Nun machen Se ma nich so hastig! Ick hab Durst.« Quappe hob schon beim Sprechen seinen Krug in die Höhe.

      Er hatte ja recht, Leichen liefen nicht weg, aber Bier wurde schal. So ließ Ferdinand seinen Humpen gegen Quappes Krug krachen. Als ihm der Gerstensaft die Kehle herunterrann, stellte er einmal mehr fest, dass die Breslauer sich aufs Bierbrauen verstanden. In Berlin gehörte eine gewisse Kennerschaft dazu, eine Wirtschaft mit gutem Bier zu finden – hier an der Oder bekam man nur mit viel Pech ein schlechtes. Ferdinand stellte den Krug ab und legte das Notizbuch auf den Tisch.

      Quappe fragte: »Und det ham Se im Waffenrock von dem Toten jefunden?«

      Ferdinand nickte. »Die Seiten sind klamm und lassen sich kaum umblättern. Bis jetzt habe ich kein einziges Wort entziffern können.«

      »Det heißt, wir wissen so jut wie nix.«

      Ferdinand trank einen Schluck Bier. Wussten sie wirklich nichts?

      »Na ja, immerhin könn’ wa sagen, det da ’n Soldat liegt. Schon wejen die Pickelhaube.«

      Daran


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