Tragödie im Courierzug. Uwe Schimunek
Pressefreiheit. Sein Ministerium unterhielt das berüchtigte preußische Spitzelwesen. Gerüchten zufolge ließ er sogar Prinz Wilhelm wegen dessen kritischer Haltung zum Krimkrieg überwachen. Ausgerechnet dieser Minister sorgte nun dafür, dass die Stettiner ausgewogen informiert wurden – das war kaum zu glauben.
Gontard las in diesen Wochen die Illustrirte Zeitung aus dem Sächsischen intensiver als sonst, weil sie über die Krim berichtete. Er blätterte um, und sogleich begannen die ausführlichen Reports. Unter der Überschrift Vom Kriegsschauplatze fasste das Blatt die letzten Ereignisse zusammen: die Geländegewinne der Russen bei Poschow und unweit von Eriwan, die Hoffnung der Türken auf die Erhebung der Tschetschenen im Kaukasus, die Truppenkonzentration und einzelne Gefechte an der Donau, die Verschiebung von russischen Armee-Einheiten in die Walachei … Allerorten standen sich gigantische Truppen gegenüber, so verzeichnete der Bericht auf türkischer Seite allein längs der Donau und außer den stark besetzten Positionen von Schumla und Varna 123 000 Mann, während die Russen nur 110 000 zählen, bei einem Angriffe aber auf einem Punkte leicht mehr Truppen concentriren können, als ihnen der Feind dort gegenüber zu stellen hat. Welch ein Irrsinn, wie viele dieser Soldaten mit Hilfe der modernen Waffentechnik verheizt wurden!, dachte Gontard. Dafür hatten deutsche Dichter Shakespeares Wendung food for powder mit dem viel treffenderen Begriff Kanonenfutter übersetzt und in die deutsche Sprache aufgenommen.
Nach dem Überblick befasste sich die Illustrirte Zeitung mit der Schlacht von Oltenitza und dem Seekampf vor Sinope en détail. Mehr noch als der Text faszinierte Gontard die halbseitige Abbildung der Flottenverbände auf dem Schwarzen Meer. Das Bildnis war aus einer Perspektive von der offenen See her gefertigt. Im Vordergrund hatten mehrere Dutzend Kriegsschiffe die Segel gesetzt, zwischen den gewaltigen Dreimastern kreuzten kleinere Schiffe und auch eine Handvoll Boote mit Männern an den Rudern. Im Hintergrund, zu Lande, ragte die Festung von Sinope in die Höhe und sah imposanter aus als das Gebirge am Horizont.
Der Krieg war nicht nur durch die Flotte sichtbar, sondern schlich sich auch in Weiß ins Bild: in Form von Qualm. Die weißen Wolken auf dem Bild krochen über die spiegelglatte Wasserfläche wie die pure Unschuld. Die schiere Größe ließ allerdings auf den Schrecken gewaltiger Explosionen schließen. Gontard fuhr ein Schauer über den Rücken. Hinter der erhabenen Darstellung ahnte er den Tod in einer neuen, industriellen Form. Die Wolken auf dem Bild nahmen den armen Seelen das Gesicht und ließen sie im Zahlenwerk der Berichte verschwinden. Auch aus den Schornsteinen der Fabriken und Lokomotiven entwich solcher Qualm. Die neuen Formen von Krieg, Arbeit und Verkehr versteckten Schweiß und Blut zugunsten von Bilanzen …
Der Sergeant des Schuldirektors trat herbei und beugte sich zu ihm hinunter. »Der Herr Generaloberst von Schnöden würde Sie jetzt empfangen.«
»Ick würde jetzt lieber nach Hause jehn«, quengelte Quappe.
»Wir nehmen nur diesen winzigen Umweg und befragen die Männer dort«, bestimmte Ferdinand von Gontard und zeigte zum Oderufer. Gleich neben einem Wellenbrecher saßen zwei Angler und guckten über ihre Ruten auf den Fluss.
»Muss det sein?«
»Nun machen Sie mal halblang, Quappe! Wenn ich Sie erst nach Hause bringe und dann wiederkomme, sind die beiden Männer sonst wo.«
Quappe stützte sich auf einen großen Ast, den Ferdinand ihm vor ihrem Aufbruch aus dem Wald geholt hatte.
Ferdinand sah, wie Quappe das Bündel mit dem Waffenrock und der Pickelhaube schulterte und so langsam loshumpelte, als müsse das verletzte Bein sofort amputiert werden. Am liebsten hätte er den Kerl mit einem kräftigen Tritt in den Hintern geheilt. Aber nein, Ferdinand ließ sich nicht von einem Stallburschen provozieren. Er lief los, überholte den Hinkenden und drehte sich nicht mehr um. Bis zu den Anglern war noch ein Stück Weg zurückzulegen. Er hatte nicht ewig Zeit, schließlich erwartete der Bataillonskommandeur seinen Bericht schon an diesem Nachmittag.
Der Pfad am Ufer war festgetrampelt. Auf dem Marsch flussaufwärts blies Ferdinand der Wind ins Gesicht. Das verhieß nichts Gutes, aus dem Osten kam zumeist Kälte nach Breslau. Von der Aue wehten Schneekristalle herüber und bissen in die Gesichtshaut, als wären sie winzige Insekten. Ferdinand lief schneller, dabei beugte er den Oberkörper gegen die Brise. Eine Rute zum Stützen wäre nicht schlecht gewesen. Er hätte einen zweiten Ast abbrechen sollen, dachte Ferdinand. Doch nun blieben bis zu den beiden Männern nur noch wenige Schritte.
Die Angler starrten auf den Fluss, vermutlich hörten sie die Schritte gegen den Wind nicht.
»Guten Tag, die Herren!«, rief Ferdinand, um die Fischer mit seinem plötzlichen Auftauchen nicht zu erschrecken.
Die beiden drehten ihre Köpfe gleichzeitig zu ihm, besser hätten geübte Tänzer das auch nicht gekonnt. Eine Antwort bekam Ferdinand nicht.
»Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
Die beiden glotzten, als wären sie selbst Fische.
»Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nicht über Gebühr beanspruchen. Es dauert wirklich nur einen Augenblick.« Ferdinand sprach gegen den Wind an und rief sich zugleich ins Bewusstsein, dass er ein Offizier Seiner Majestät in Uniform war. Deshalb beschloss er, den freundlichen Ton abzulegen, sollten die Angler nicht bald zuvorkommender reagieren. Zunächst versuchte er, einen respekteinflößenden Gesichtsausdruck zu machen.
»Guten Tag, Herr Offizier!«, sagte der Angler, der näher zu Ferdinand saß, und erhob sich.
Warum nicht gleich so?, dachte Ferdinand und betrachtete den Mann. Der Fischer war in mehrere Lagen schäbiger Kleidung eingepackt. Aus dem Mantel mit den zahllosen Flicken guckten eine Joppe und ein grobes Hemd heraus. Alle Kleidungsstücke mussten ihre Farbe bereits vor Jahren verloren haben. Der Angler trug außerdem eine Mütze aus derber Wolle, aus welcher der graue Zottelbart direkt herauszuwachsen schien. Der Graue zog die Mütze und schaute zu seinem Kumpel. Der sah ebenso ärmlich aus, sein Bart war allerdings von sattem Schwarz. Vermutlich zählte der zweite Mann zehn, fünfzehn Jahre weniger. Er nahm seine Mütze ebenfalls ab, deutete einen militärischen Gruß an und schwieg.
»Beißen die Fische?«, fragte Ferdinand.
»Es könnte besser sein, Herr Offizier«, antwortete der Graue und zeigte auf einen Eimer, der lediglich klares Wasser enthielt.
»Fischen Sie hier des Öfteren, meine Herren?«
Die beiden sahen sich an, als befürchteten sie, etwas Falsches zu sagen. Sie schwiegen erst einmal. Dabei war das Angeln hier nicht verboten, schließlich handelte es sich nicht um ein privates Flussufer.
»Ich ermittle in einer militärischen Angelegenheit und erbitte lediglich ein paar Auskünfte.« Ferdinand dachte daran, wie er bei der Begrüßung der beiden Männer erst nach dem bösen Blick eine vernünftige Reaktion erhalten hatte, und fügte hinzu: »Die Informationen sind mir allerdings sehr wichtig.«
Der Alte zog den Kopf ein, der Jüngere starrte auf den Boden. Die beiden sahen aus, als trauten sie sich nicht einmal, im Erdboden zu versinken.
»Fischen Sie immer an dieser Stelle?«
Der Alte schaute zum Jüngeren, der hob den Kopf. War das ein Nicken? Nach einigem Zögern antwortete der Alte: »Wenn es wärmer ist, gibt es eine Menge Leute, die hier fischen. Gelegentlich sitzen wir daher auch weiter stromaufwärts.«
»Wie viele Angler gibt es denn hier gewöhnlich, sagen wir, im Spätsommer?«
Der Alte seufzte. »Puh … Bei gutem Wetter vielleicht ein paar Dutzend. Auf dieser Seite des Flusses.«
»Kennen Sie die anderen Angler alle?«
»Nicht alle, aber die meisten. Wenngleich wahrlich nicht alle unsere Freunde sind.« Der Alte wiegte den Kopf. »Sehr viel zu reden gibt es beim Fischen auch nicht.«
»Sitzen Sie gelegentlich auch dahinten?« Ferdinand zeigte stromabwärts, zu der Biegung, wo sich das Gestrüpp mit dem Leichnam befand.
»Dort?« Die Frage klang wie: Sind Sie noch bei Sinnen? Der Alte schlug prompt