Au revoir, Tegel. Bettina Kerwien
d="ud37dd15a-27e8-5a76-b87b-dab1389b5320">
Bettina Kerwien
Au revoir, Tegel
Ein Kappe-Krimi
Jaron Verlag
Bettina Kerwien lebt in Berlin und studierte Amerikanistik und Publizistik. Als Geschäftsführerin eines Stahlbauunternehmens widmet sie jede freie Minute dem Schreiben. Im Jaron Verlag veröffentlichte sie 2017 ihren Berlin-Krimi «Mitternachtsnotar».
Originalausgabe
1. Auflage 2019
© 2019 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin
Satz: Prill Partners | producing, Barcelona
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-95552-043-4
Für meinen Vater Günter Kerwien (1935–2018), 1969–1991 Elektromechanikermeister Tegel-Nord. Es ist auch sein Flughafen.
Je voudrais que mon âme s’envolât vers le ciel
par une toute petite ouverture de mon cœur.
(Ich wünschte, meine Seele könnte durch eine ganz kleine
Öffnung in meinem Herzen in den Himmel entgleiten.)
Elisabeth von Österreich-Ungarn («Sisi»)
Inhalt
Prolog: Dienstag, 3. September 1974
Kapitel Eins: Freitag, 6. Dezember 1974
Kapitel Zwei: Samstag, 7. Dezember 1974
Kapitel Drei: Sonntag, 8. Dezember 1974
Kapitel Vier: Montag, 9. Dezember 1974
Kapitel Fünf: Dienstag, 10. Dezember 1974
Kapitel Sechs: Mittwoch, 11. Dezember 1974
Kapitel Sieben: Donnerstag, 12. Dezember 1974
Kapitel Acht: Freitag, 13. Dezember 1974
Kapitel Neun: Samstag, 14. Dezember 1974
Kapitel Zehn: Sonntag, 15. Dezember 1974
Kapitel Elf: Freitag, 20. Dezember 1974
PROLOG
Dienstag, 3. September 1974
IM KALTEN SPRÜHREGEN des frühen Abends passiert Peter Kappe ein gelbes Schild mit einer Warnung in ungelenkem Deutsch.
HALT! Hier wird geschossen!
Darunter ein paar kyrillische Buchstaben, die er nicht lesen kann. Dahinter ein Truppenübungsplatz der Roten Armee.
Kappe ist dienstlich in Hamburg gewesen, keine große Sache, aber jetzt geht es nach Hause. Er nimmt die Fernverkehrsstraße 5 über Lauenburg, die Transitstrecke nach West-Berlin oder Berlin (West) – der eine sagt so, der andere so. Auf den Verkehrsschildern des Arbeiter-und-Bauern-Staates heißt es sogar Transit Westberlin. Himmelsrichtung und Name in einem Wort, als sei das Westliche ein Merkmal, das dieser Stadt vor allem anderen anhaftet.
Kappes Name ist unauffällig genug, sein Privat-Pkw auch. Der Blick des DDR-Grenzers an der Kontrollstelle Lauenburg / Horster Damm streift nur müde über das Olivgrau des behelfsmäßigen Personalausweises. Dann winkt er den in die Jahre gekommenen beigegelben Opel Rekord durch.
Es ist jedes Mal wieder da, dieses Transit-Gefühl. Als wäre Kappes Wagen eine Sojus-Kapsel in einer fremden Galaxie. Als würden die Richtungsschilder ihm einen Weg zum Notausgang weisen.
Er muss daran denken, wie er vor drei Tagen seiner Frau Sarah gesagt hat, dass das Landeskriminalamt Hamburg ihn angefordert habe. Nur für eine Gegenüberstellung. Den Hamburgern sind ein paar Leute ins Netz gegangen, die sich nach einer Großrazzia am Bahnhof Zoo verdünnisiert hatten. Normale Polizeiarbeit. Aber Kappe hat genau gewusst, was dieser Blick seiner Frau bedeutete. Auch die Geste, mit der sie die Kleine an sich gepresst hat.
In der Dämmerung blockiert ein LPG-Trecker mit Mist vor ihm die F5. Es riecht nach Abgasen und Landwirtschaft. Die Straße führt durch kriegsversehrte Ansiedlungen. In engen Kurven rutscht Kappes Wagen über feuchtes Kopfsteinpflaster. Streckenweise fährt sich die F5 wie eine Dorfstraße. Er erhascht Blicke in leere Schaufenster, sieht mürrische Menschen mit Atemfahnen und Dederon-Einkaufsnetzen zusammenstehen und im trüben Licht der Betonmasten schweigen, Jugendliche, die rauchen und Westautos begaffen. Hühner scharren im Graben. Das Leben in diesem fremden Land kommt Kappe auf viel zu persönliche Art nahe.
Dann ist es endgültig Nacht über der Straße. Kappe fährt gerne in die Dunkelheit hinein. 248 Kilometer Nacht bis Berlin. Er folgt nur noch dem Lichtkegel seiner Scheinwerfer. Kasernen, Neubaublocks und Alleebäume ziehen vorbei. Entgegenkommende Wagen blenden auf und ab. Um das Rauschen der Reifen auf dem Landstraßenbeton zu übertönen, schaltet Kappe das Radio an. Erst findet er nur Frequenzknistern, dann ein Lied von den Puhdys, Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt. Regenmusik. Kappe ist erst 33, er kann Nazareth oder Gary Glitter trotzdem nichts abgewinnen. Dieses Hysterische im Rock, das ihm eine Zeit lang erfrischend erschien, kommt ihm nun aufgesetzt vor. Die Stones hat er seit dem lächerlichen Waldbühnen-Konzert abgehakt. Ein Musiker, der bei einem Liveauftritt versagt, ist kein Musiker. Also hat Kappe nach dem Umzug seine Blue-Note-Scheiben wieder rausgekramt. Aber wenn er im Osten leben würde, würde er wohl auch die Puhdys hören.
Kappe ist, was sich in trotziger Umdeutung der prekären Rumpfexistenz dieses Fleckchens Erde einen freien West-Berliner