Au revoir, Tegel. Bettina Kerwien

Au revoir, Tegel - Bettina Kerwien


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und Schwung haben, sich auf sein stolzes Zuhause freuen, dieses Leuchtfeuer der Freiheit, dieses Schaufenster des Westens. Auf Frau und Tochter müsste er sich freuen. Aber zu Hause gibt es Diskussionsbedarf. Nur ist Kappe zu feige, das Problem anzusprechen. Und das, obwohl er als Laberbulle beim Diskussionskommando des Referats MEK 5 in Krisenkommunikation geübt ist. Er ahnt, dass Sarah nicht mit sich über ihren neuen, mit Wochenend- und Nachtschichten verbundenen Arbeitsplatz im Rudolf-Virchow-Krankenhaus verhandeln lässt. Aber wohin mit dem Kind?

      Das Puhdys-Lied ist zu Ende. Der Radiomoderator kündigt ein Interview mit Jürgen Sparwasser an, dem Torschützen der DDR-Fußballnationalmannschaft, die am 22. Juni im Hamburger Volksparkstadion die sogenannte BRD 1:0 besiegt hat.

      «Das war kein normales Spiel», erzählt der DDR-Stürmer. «Es kommt die 78. Minute, ein Abwurf von Jürgen Croy auf die rechte Seite. Erich Hamann läuft mit dem Ball über die Mittellinie und schlägt diesen wunderbaren Diagonalpass über vierzig Meter auf die linke Seite. Eigentlich bin ich bescheuert gewesen, überhaupt loszulaufen. Da warteten vier gegnerische Spieler auf mich: Berti Vogts, Horst-Dieter Höttges, Bernd Cullmann und Sepp Maier im Tor. Es ist wahrscheinlich eine Frage des Instinkts, es trotzdem zu tun. An und für sich wollte ich den Ball mit der Brust nehmen, aber ich habe ihn direkt auf die Nase bekommen. Doch genau das verschaffte mir den entscheidenden Vorteil vor Höttges.»

      Sparwasser machte das Tor. Weltmeister wurde trotzdem die BRD. Aber dieser Sieg im direkten Vergleich ist einzigartig und historisch. Kappe gönnt den Menschen im Osten den Augenblick des Triumphs.

      Sparwasser redet weiter, doch Kappe ist mit seinen Gedanken woanders. Fußball interessiert ihn nicht mehr. Früher ist er ab und an mit seinem Vater und seinem Großonkel ins Stadion gegangen. Aber er ist Jahrgang ’41, ein Kriegskind. Nichtigkeiten wie Sport regen ihn nicht mehr auf, seit er Familie hat. Politisch interessiert es ihn aber als West-Berliner, dass Paul Breitner mit Jürgen Sparwasser das Trikot getauscht hat. Es wäre schön, wenn sich die sportliche Entspannung auch in einem politischen Tauwetter niederschlagen würde. Diese harsche Belagerungsatmosphäre in West-Berlin frisst an Kappe. Auch dass man nicht mal eben zum Weihnachtsbaumschlagen ins Umland fahren kann. Er hofft, dass es nie wieder Krieg geben wird. Erst seitdem er sich bei der Kripo jeden Tag mit Gewalt konfrontiert sieht, begreift er, wie sehr ihn der Krieg geprägt hat.

      Kappe klemmt sich die Thermoskanne zwischen die Knie, schraubt mit einer Hand den Deckel ab und trinkt sich eine angenehme Wärme ins Blut. In knapp vier Monaten ist Weihnachten. Wenn er über das Politische hinaus noch einen Wunsch frei hätte: Es wäre schön, wenn Sarah nicht jede Nachtschicht machen würde, die auf ihrem Dienstplan steht. Das zusätzliche Geld erleichtert einiges. Aber eigentlich brauchen sie es nur für die neue, große Wohnung. Drei Zimmer in Charlottenburg mit Balkon und Kinderzimmer, Wundtstraße 11, erster Stock. Gleich bei seinen Eltern um die Ecke.

      Im Sommer 1973, nachdem Kappe den Kripo-II-Lehrgang beendet hatte und zum Kriminalkommissar zur Anstellung ernannt worden war, waren Sarah, Tabea und er aus der kleinen, günstigen Zwei-Zimmer-Neubauwohnung an der Lindauer Allee in Reinickendorf nach Charlottenburg umgezogen. Gehobener Polizeidienst beim Landeskriminalamt – das war schon was. Und da Kappe Akademiker ist, hatte die Behörde auf das normalerweise auf diese Ausbildung folgende Praktikum mit einer einjährigen Rotation in verschiedenen Dienststellen verzichtet. Er wurde zunächst beim Referat M, KI MII verwendet, das für Sittlichkeitsdelikte zuständig ist. Als Psychologe kamen ihm dort seine Kenntnisse in Gesprächsführung bei Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfern zugute. Nach einer Anstandsfrist hatte er sich für die Mordkommission beworben. Seither sinniert Kappe darüber, ob das richtig war. So nahe am eigenen Vater, der bei der MK 1 nebenan sitzt. Ist er angekommen? Oder wäre er als klinischer Psychologe glücklicher? Nein. Ein Psychologe, der einen Patienten behandelt, wirkt immer nur auf diese eine Person. Ein Polizist, der einen Verbrecher verhaftet, wird zumindest bei Täter und Opfer wirksam. Das sind schon mal zwei.

      Kappe nimmt noch einen Schluck Kaffee. Solange er sich an dem heißen Getränk festhalten kann, wird vielleicht doch noch alles gut werden.

      Linker Hand tauchen die trüben Lichter der Raststätte Quitzow auf. Es ist der einzige Halt zwischen West und West, im Nirgendwo hinter Perleberg. Kappe lenkt den Wagen von der Straße. Er muss rauchen. Er hat das Rauchen für sich entdeckt, als er für den Kripo-Lehrgang gelernt hat. Ein Mann muss ein Laster haben, das die Nerven beruhigt. Kappe kann besser denken, wenn er raucht. Und gegen das Zigarettenrauchen kommt ihm der gelegentliche Joint seiner Studientage wie ein Dauerlutscher vor. Ja, Rauchen soll ungesund sein. Aber nur wer gefährlich lebt, lebt ganz. Der Spruch gefällt ihm. Der ist von John Wayne oder so, aus irgendeinem Schundwestern.

      Peter Kappe kann nicht im Auto rauchen. Nicht weil ihn seine Mutter zu gut erzogen hätte, sondern weil es im Auto noch nach Sarahs Parfüm riecht, irgendwie jung, irgendwie frei. Das soll so bleiben. Auch wenn die verzauberte Phase ungetrübter Anhimmelung in ihrer Beziehung seit einiger Zeit vorbei ist. Sarah arbeitet zu viel. Sie gibt das Kind zu oft bei Kappes Mutter ab. Sie haben zu selten Zeit füreinander. Er vermisst die Zweisamkeit. Gleichzeitig ärgert ihn, dass ihn das ärgert. Was ist los mit ihm? Wird er zum Spießer, seit er bei der Kripo ist? Wird er vielleicht sogar wie seine Mutter Gertrud, die jahrzehntelang an den Arbeitszeiten seines Vaters Otto herumgenörgelt hat? Um Gottes willen! Vielleicht wird diese Entwicklung von dem Bircher Müsli begünstigt, das er täglich frühstückt. Jedenfalls muss das aufhören. Der Diplom-Psychologe Kappe verordnet sich selbst Milde, Gelassenheit und Humor. Und eine Pause von zwei Zigarettenlängen.

      Im Schaukasten des Mitropa-Restaurants hängt eine maschinengeschriebene Speisekarte: ein Glas Vollbier hell für 43 oder dunkel für 25 Pfennig, der Goldbroiler mit Gurkensalat und Salzkartoffeln für 5 Westmark. Frei konvertierbare Währung, wie es auf einem Schild heißt.

      Kappe benutzt die Toilette. Den Vorraum ziert eine gelbe Blumentapete. Die Rohre aller Pissoirs liegen auf Putz. An den Siphons läuft eine rostige Brühe ab. Der Uringestank sticht. Kappe atmet flach. Er ist sehr groß und muss sich herunterbeugen, um im Spiegel über dem Handwaschbecken seinen Bartschatten und seine Augenringe anzustarren. Er trägt einen seiner schwarzen Rollkragenpullover und die taillierte, leicht ausgestellte Gabardinehose. Sein dunkles Haar ist zu lang. In einer Karfreitagsprozession würde er einen erstklassigen gepflegt verhungerten Jesus abgeben. Anscheinend schafft er es trotzdem nicht, West-Berlin durch sein Leiden zu erlösen.

      Im Restaurant ist Kappe der einzige Gast. Er bestellt einen Bohnenkaffee. 75 Pfennig. Als der Kellner die Tasse bringt, hält Kappe ihm seine Schachtel Ernte 23 entgegen. Der Kellner steckt sich die Zigarette sofort an. Sie kommen ins Gespräch. Kappe fragt ihn, warum der Parkplatz voll und das Restaurant trotzdem leer ist.

      «Die sin alle im Intershop», wispert der Mann. «Ham neujerdings urst ville Westjeld inne Tasche. ’ne Postmaschine vonne Amis is wohl nachts bei de Russen auf ’m Truppenübungsplatz Döberitz abjeschmiert, mit jede Menge D-Mark im Jepäck!»

      Kappe staunt gebührend. Von diesem Sterntaler-Märchen hat er noch nie gehört. Aber die Geschichten, die sich die Menschen zusammenfantasieren, gleichen sich doch auf der ganzen Welt.

      Er geht noch kurz in den Intershop, um für seine Frau das Parfüm zu kaufen, Charlie von Revlon. Kappe mag den leichten Jasminduft. Er stellt sich vor, dass so Frauen riechen, die zu ihrem Glück keine Männer brauchen.

      Die Schlange vor der Kasse ist lang. Der Mann vor ihm mit seiner militärischen Haltung und dem kurzgeschorenen weißblonden Haar sieht aus, wie Kappe sich einen Offizier der Volksarmee in Zivil vorstellt. Er schiebt einen randvollen Einkaufswagen. Alkohol, Zigaretten, Feinstrumpfhosen. Kappe hält etwas Abstand. Er sollte wieder eine Zeitung abonnieren. Auf dem Präsidium liegt ja immer nur der Berliner Blitz aus. Der Ostler an sich sei ein Bösewicht, will die konservative Boulevardpresse ihre Leser glauben machen. Das war schon bei Adenauer so, und das bleibt auch so. Ein klares Feindbild gibt noch dem tristesten Tag Struktur.

      Ganz vorne in der Kassenschlange steht ein kleiner Junge in aufgetragenen kurzen Hosen. Das Kind hievt eine einzelne Konservendose mit Ananasscheiben neben der Registrierkasse auf den Tresen. Es ist eine prächtige Dose. Der Junge hat nur Augen dafür. Acht Scheiben Ananas, natursüß, mit Fruchtmark, handverlesen. Die Fruchtscheiben auf dem Etikett


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