Harka. Liselotte Welskopf-Henrich

Harka - Liselotte Welskopf-Henrich


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Weg und auf den Vater. Die beiden Indianer waren schon tief in den Berg hineingelangt. Das Rauschen wurde übermächtig; ein Dröhnen erfüllte die Höhle, das jede andere Sinneswahrnehmung benahm.

      In diesem Augenblick spielte sich etwas ab, was Harka nur in Sekundenschnelle wie ein wirres grausiges Spiel wahrnehmen konnte. Es hatte mit einem Schrei angefangen, einem einzigen grässlichen, aus dem Dunkel hervorbrechenden Laut, der rings um die Wände und mit dem Echo wieder zurücklief. Dann hatte die eine Hand des Vaters, nach Halt suchend, Harka gepackt, und der Junge hatte das Gefühl, dass er in irgendeine namenlose Tiefe gerissen werde. Entsetzen durchzuckte ihn, und er schlang die Arme um einen Felszacken, denselben, an dem sich der Vater mit der anderen Hand noch hielt. Der Zacken brach ab. Wasser stäubte über Harka.

      Doch in diesem Moment musste der Vater einen besseren Halt gefunden haben, denn er konnte den Knaben auf festen Felsboden ziehen. Von irgendwoher schrie es noch einmal, dann war nichts mehr um die beiden Indianer als Finsternis und das dröhnende Rauschen.

      Harka zwang seinen heftigen Atem zur Ruhe. Als er wieder denken konnte, fragte er sich, ob der Vater geschrien habe. Nein, es konnte nicht der Vater gewesen sein. Im echowerfenden Fels und bei dem starken Rauschen mochte zwar eine menschliche Stimme anders klingen als sonst. Aber der zweite Schrei war von fernher erklungen, während sich der Vater dicht bei Harka befand.

      Ein paar Funken leuchteten im Dunkeln auf. Harka hatte bei dem unaufhörlichen Dröhnen das Reiben mit dem Feuerzeug nicht hören können. Jetzt erkannte er im Funkenlicht die Hand des Vaters und das Wasser, das ihn selbst übersprüht hatte. Der kräftige Strahl einer unterirdischen Quelle drang aus einem ansteigenden Seitenarm des Höhlenganges, rechter Hand, kreuzte den Gang und stürzte dann als Wasserfall in die unbekannten Tiefen des Berges.

      Die Funken verloschen wieder.

      Der Vater erhob sich, fasste Harkas Hand und begann, ihn vorsichtig in Richtung des Höhlenausgangs zurückzuleiten. Nach einigen Metern konnte er die Hand des Knaben loslassen, es bestand keine Gefahr mehr für ihn, fehlzutreten oder abzurutschen. Harka folgte dem Vater, und schweigend, wie sie gekommen waren, gelangten die beiden Indianer wieder zu der Stelle, an der sich der Höhlenmund inmitten der steilen Felswand öffnete. Das Dröhnen und Rauschen war für ihre Ohren wieder verklungen, nichts vernahmen sie mehr als den fernen singenden Ton. Sie erblickten wieder die Wipfel der Bäume, die sich im Nachtwind neigten, und hoch über Fels und Wald funkelten die Sterne, unerreichbar, gleichgültig.

      Ein Käuzchen schrie.

      Der Häuptling untersuchte, ob die Lassoenden noch zu dem Felsbuckel hinabhingen. Es war alles unberührt, und Mattotaupa zog sein Lasso zu sich ein. Er legte es jetzt um einen Felsvorsprung und ließ sich vom Höhlenausgang zum Waldboden hinab. Harka tat es ihm nach und blieb dann in der Spur des Vaters, der im dunklen Wald den Hang querte und von der Südseite des Berges, an der man sich befand, zur Westseite strebte. Als Mattotaupa seine Gangart beschleunigte, hatte Harka wieder Mühe, ihm zu folgen.

      Schließlich gelangten die beiden an eine Quelle, die mit ungewöhnlicher Breite und Gewalt aus dem Berge herausbrach; die Wasser jagten rauschend den waldigen Steilhang hinab zum größeren Bach am Fuße des Bergstocks.

      An der Quelle machte der Häuptling halt. Die Bäume traten hier etwas auseinander, die Sterne schienen auf die kleine Lichtung, das Wasser schimmerte, und man konnte sich leichter zurechtfinden. Mattotaupa hieß den Jungen sich hinlegen und schlafen. Harka gehorchte, wenn auch ungern. Aber er wollte dem Vater beweisen, dass er sich in jeder Lage beherrschen konnte. Er suchte sich ein Moospolster, kuschelte sich zusammen und schlief fröstelnd ein.

      Als er wieder erwachte, befand er sich mitten im allgemeinen Erwachen des Morgens. Die Finsternis löste sich auf, der Mond und die Sterne verblichen, Himmel, Bäume, Fels und Moos gewannen Farbe, und in der stark hervorbrechenden, quirlenden Quelle tanzten die Lichtreflexe der heraufziehenden Sonne. Vögel sangen, Eichhörnchen verfolgten sich, ein Käfer schwirrte und suchte Nahrung. Es war kalt, kälter noch als in der Nacht; der Tau auf den dürren Blättern und Nadeln, die den Boden bedeckten, wirkte silbern wie Reif.

      Harka beobachtete den Vater, der rings um das Gewässer nach Fährten zu suchen schien. Aber abgesehen von einigen Wildspuren, die zu Quelle und Bach und wieder davon weg führten, war nichts zu finden. Der Häuptling setzte sich zu dem Jungen.

      »Es war ein Mensch in dem Berg«, sagte er langsam und sehr ernst. »Das Wasser, dem wir in der Höhle begegnet sind, kommt hier aus dem Berg heraus.«

      Harka betrachtete die Quelle eingehend. Konnte ein Mensch damit aus dem Berg herausgelangen? Es schien unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Während Harka noch nachdachte, hörte er den Vater schon weitersprechen: »Es wäre besser, noch einige Tage hier zu bleiben. Dann ist der fremde Mensch entweder tot, oder er zwängt sich mit der Quelle heraus. Aber du weißt, dass wir mit unseren Zelten weiterziehen wollen, um Büffel zu finden, und dass ich als Kriegshäuptling den Wanderzug anführe. Ich darf nicht hier verweilen. Wir können nichts anderes tun als einen Krieger holen und an der Quelle wachen lassen. Er muss später unserer Fährte folgen. Lauf zu den Zelten und frage den Friedenshäuptling Weißer Büffel, wen er als Wache hierhersenden will. Ich bleibe hier, bis ich abgelöst werde. Hast du mich verstanden?«

      Harka machte sich auf den Weg. Er war zwar müde, aber zu erregt, um sich dessen bewusst zu werden, und hetzte in leichten Sätzen den Abhang schräg hinab dem Zeltdorf zu. Dabei brannte in seinem Innern die Frage, warum der Vater ihn in dieser Nacht in die Höhle geführt hatte. Was hatte er ihm offenbaren wollen? Durch das Zusammentreffen mit dem Unbekannten war alles anders verlaufen als vorhergesehen, und das Geheimnis, das Mattotaupa seinem Sohn in der letzten Nacht in der Waldheimat hatte enthüllen wollen, war Geheimnis geblieben. Voller dunkler und unbestimmter Ahnungen kam Harka endlich wieder zu den Zelten, die er in der Abenddämmerung des vergangenen Tages verlassen hatte.

      Die Tipis, wie die Dakota ihre runden, oben spitz zulaufenden Lederzelte nannten, waren auf einer Waldwiese oberhalb des Flusses aufgebaut. Eine Gruppe von vier größeren Zelten unterschied sich von den anderen: das Zauberzelt des Geheimnismannes, das Beratungszelt, das Zelt des Friedens- und das des Kriegshäuptlings. Diese Tipis waren besonders sorgfältig mit Zauberzeichen in den bunten Erdfarben bemalt, die die Indianer herzustellen wussten. Das Zelt des Kriegshäuptlings Mattotaupa trug das Zeichen großer Vierecke. Auf den schweren Lederplanen lag der Sonnenschein. Harkas Mutter hatte die büffelledernen Zeltwände am Eingang gegen Osten zu von den in die Erde gerammten Pflöcken gelöst und aufgeschlagen, Luft und Licht konnten frei in das Zelt dringen. Harka sah den Feuerplatz in der Mitte des väterlichen Tipis, den Rauch, der kerzengerade aufstieg, und die irdenen Schüsseln. An der Feuerstelle saß die Großmutter und nähte an einem Gewand. Harkas jüngere Geschwister, ein zehnjähriges Mädchen und ein neunjähriger Junge, schauten aufmerksam zu. Die Mutter war vor dem Zelt damit beschäftigt, einen Hasen abzuhäuten. Harka verspürte großen Hunger, denn es hatte seit Wochen nur wenig zu essen gegeben, aber er unterdrückte ihn. Seinem Auftrag gemäß ging er sofort zu dem Zelt des Friedenshäuptlings, das neben dem Tipi Mattotaupas stand.

      Das Zelt des Weißen Büffel war geschlossen. Es war in den letzten Tagen immer geschlossen gewesen, denn der Friedenshäuptling war krank. Auch die Beschwörungen des Zaubermanns hatten ihn noch nicht zu heilen vermocht. Er siechte dahin, ohne eine Wunde zu haben. Harka empfand Scheu vor dem unsichtbaren Feindlichen, das im Mark des Friedenshäuptlings fraß. Als jetzt in dem benachbarten Tipi des Zaubermannes, das mit Schlangen und Donnervögeln bemalt war, ein dumpfer Zaubergesang anhob, nahm der Knabe die Hand vor den Mund, um leise zu Wakantanka, dem »Großen Geheimnis« zu sprechen, das, ihm unfassbar, hinter allem stand, was er sehen und hören konnte.

      Er raffte sich auf und trat in das Zelt des Weißen Büffel ein.

      Es war dämmrig im Innern. Im Hintergrund saß die Frau, still, scheinbar teilnahmslos. Das kimonoförmig geschnittene Ledergewand, dessen Ärmel und Saum in Fransen ausliefen, legte sich weich um ihre Gestalt. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und schaute mit trauerndem Blick nach dem Jungen, der bis zur Feuerstelle herangekommen war. Weißer Büffel lag ausgestreckt auf einem Lager von Lederdecken mit der Kopfstütze aus Weidengeflecht, das von einem Dreifuß herabhing. Sein Gesicht war eingefallen, seine Hände waren


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