Harka. Liselotte Welskopf-Henrich

Harka - Liselotte Welskopf-Henrich


Скачать книгу
am Waldrand ein gutes Stück abwärts gelangt, ohne dass sich bis dahin etwas ereignet hatte. Von seinen Gefährten nahm er nichts wahr, weder von Tschetan, der auf dem Fels oben in voller Deckung lag, noch von Sonnenregen, der, gleich Harka, auf der anderen Seite der Quelle durch den Wald schlich und einen weiteren Weg hatte als der Knabe, da er das Wasser erst von oben im Bogen umging.

      Der Morgengesang der Vögel war längst verstummt, nur hin und wieder ertönte noch ein Zwitschern und Zirpen. Eine Eidechse lag auf besonntem Geröll und wärmte sich auf. Harka umging den Platz sorgfältig, um das Tier nicht zu beunruhigen. Eine Eidechse, die weghuschte, konnte einen Feind schon misstrauisch machen.

      Bis jetzt hatte der Knabe keinerlei Spur von einem Menschen entdeckt, der gekommen oder gegangen wäre. Mit gleichbleibender Vorsicht schlich er weiter und kam endlich dem reißenden Bach nahe, dem Abfluss der Quelle am Hang. Harka lugte zwischen Bäumen und Gesträuch nach dem Wasser. Die Wellen sprangen über glatt gescheuerten Boden und gewaschene Steine; sie fingen das Licht, glitzerten und wurden wieder dunkel wie Walderde und grünes Moos. Oben von der Quelle und tiefer unten von einem kleinen Wasserfall her rauschte es kräftig; dazwischen gluckerte und gurgelte es um ein paar Steine. Harka kannte dieses Wasser von seinen Streifzügen mit den Jungen Hunden. Er wusste genau, wie der Bach verlief und wo der Wildwechsel war.

      Nichts schien sich verändert zu haben, nirgends war eine verdächtige Spur zu sehen. Harka schaute aufmerksam umher. Hier am Bach sollte er sich mit Sonnenregen treffen.

      Zwischen dem Gesträuch am anderen Bachufer erschien das Gesicht des älteren Indianers. Harka und er schauten sich an, und jeder entnahm dem Blick des anderen, dass keiner etwas Auffallendes entdeckt hatte. Sonnenregen bedeutete Harka durch eine leise Kopfbewegung, dass er, auf seiner Uferseite bleibend, aufwärts zur Quelle schleichen sollte. Dann verschwand das Gesicht des Sonnenregen wieder, und wenn Harka nicht gewusst hätte, dass der Krieger am jenseitigen Ufer aufwärts schlich, er würde nichts davon wahrgenommen haben. Vielleicht war der unbekannte Feind ebenso geschickt und bewegte sich irgendwo im Walde, ohne dass die Indianer ihn entdeckten? Harkas Spannung steigerte sich immer mehr, je näher er dem Platz kam, an dem sein Vater lag. Der Ohnmächtige oder Tote befand sich auf der Uferseite, an der der Knabe mit noch zunehmender Behutsamkeit aufwärts kroch.

      Harka erreichte eine Stelle, von der aus er die Quelle und den Vater aus der Nähe sehen konnte, während er selbst hinter Zweigen und einem kleineren Steinblock gut versteckt blieb. Dabei machte er eine überraschende Entdeckung, und Freude erfüllte ihn. Mattotaupa lebte! Er bewegte seine Augen. Während seine Stirn zur Erde gewandt blieb, blickte er vorsichtig zu seinem Jungen hinüber, den er im Versteck bemerkt haben musste.

      Harka rührte sich nicht. Er suchte nur mit den Augen die Umgebung und die Gestalt des Vaters ab, jedem Fingerbreit widmete er einige Zeit seine Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich verhielt sich Sonnenregen ebenso, denn von ihm war noch nichts wahrzunehmen, obgleich er am jenseitigen Bachufer längst ebenso weit gelangt sein musste wie Harka am diesseitigen.

      Alle suchten mit den Augen und lauerten mit dem Gehör, Tschetan oben auf dem Fels, Harka und Sonnenregen im Wald am Bach und offenbar auch Mattotaupa selbst, der wach, aber regungslos liegen blieb.

      Die Sonne schien hell auf die kleine Lichtung an der Quelle. Zwei Bienen summten umher, die ersten ihrer Art nach der Schneeschmelze. Sie mussten hungrig sein wie die Menschen, die auch die Wintervorräte aufgezehrt hatten. Die Bienen suchten nach Nektar, die Dakota nach Büffeln, aber noch hatte weder Tier noch Mensch gefunden, was er zum Leben brauchte.

      Die ungestört summenden Bienen, eine Spinne, die über trockene Steine am Wasser kroch, ein Vogel, der herabflatterte und am Bach nippte, bewiesen, dass die vier Indianer sich ruhig genug verhielten, um die Tiere nicht scheu werden zu lassen. Gab es noch einen anderen Menschen, der sich auch so still verhielt? Das war immer wieder die Frage.

      Harka überlegte, warum sein Vater so merkwürdig auf dem Boden lag, mit dem Kopf abwärts, die Arme gespreizt, als ob er gestürzt sei. Der Junge prüfte genau die Lage der Steine. Mattotaupa musste gestürzt sein. Die Spuren waren selbst für ein Jägerauge aus nächster Nähe kaum zu erkennen. Harka nahm an, dass der Vater am Bach gestanden hatte, etwas unterhalb der Quelle, so weit unterhalb, dass sich der Kopf in Höhe der Quelle selbst befand. Ein leichter Zeheneindruck im Sand verriet den Standplatz. Mattotaupa hatte so gestanden, dass er Fels und Quelle den Rücken drehte. Er hatte bachabwärts geschaut, sicher nur für einen Augenblick oder weil irgendetwas unten im Wald seine Aufmerksamkeit erregt hatte, vielleicht ein Geräusch. Als Harka den Vater vor Stunden verlassen hatte, hatte er noch wahrgenommen, wie dieser sich verbarg, um die Quelle unbemerkt zu beobachten. Warum war er aus seinem Versteck hervorgekommen? Das konnte der Knabe sich nicht erklären. Der Vater schien auch nicht verwundet zu sein. Sein brauner Rücken, die bärenfettglänzende Haut, die unempfindlich gegen Kälte und Nässe war, spiegelte in der Sonne; das blauschwarze Haar war glatt gescheitelt. Unversehrt war die Schlangenhaut, die als Stirnband diente. Unversehrt hingen die beiden schönen Federn des Kriegsadlers am Hinterkopf. Die hellledernen Gamaschenhosen, die Mokassins waren nicht beschmutzt; das Messer war in der Scheide, das Lasso lag zur Hand. Das einzige, was Harkas Verdacht erregte, war ein seltsamer Stein, der nicht weit von Mattotaupa lag. Er glich nicht den Kieseln, die das Wasser rundgewaschen hatte, sondern war eckig und bizarr geformt. Seine Oberfläche war rauh wie die der kleinen Steinpyramiden, die in der Höhle, vom Boden aufwachsend, das Vorwärtskommen so schwer gemacht hatten.

      Mattotaupa bewegte sich plötzlich. Mit der Geschwindigkeit einer flüchtenden Eidechse glitt er von seinem Platze weg und hinter Steinblock und Gebüsch zu Harka. Wortlos warteten dann beide. Sie brauchten ihre Gedanken nicht auszutauschen. Es war klar, dass Sonnenregen den Vorgang vom anderen Ufer her beobachtet haben musste und so rasch, wie es unbemerkt möglich war, herüberkommen würde.

      Nach kurzem erfüllte sich diese Erwartung. Sonnenregen kroch heran, Mattotaupa und Harka rückten zusammen, und eng aneinandergedrängt beobachteten die drei vom selben Versteck aus die Quelle. Dort ging etwas vor, was ihre Aufmerksamkeit und ihr Erstaunen erregte. Der Quellstrahl wurde unruhig, schwächer, zerteilter, als ob er im Innern des Berges ein Hindernis für sein Hervorbrechen gefunden habe. Dann schoss er plötzlich mit verdoppelter Gewalt hervor und schleuderte dabei zwei faustgroße Steine mit, von denen der eine auf das Kieselgeröll polterte, der zweite gegen einen Stamm schlug. Harka sah die beiden Steine, vom Bachwasser übersprüht, liegen. Sie waren ebenso spitzig und sonderbar geformt wie der erste, der seinen Verdacht erregt hatte.

      Mattotaupa, Sonnenregen und Harka schauten sich fragend an. Die beiden Männer begannen in der Zeichensprache miteinander zu sprechen.

      »Das ist kein Mensch, der diese Steine schleudert«, sagte Mattotaupa.

      »Das Wasser ist Zauberwasser«, antwortete Sonnenregen. Die Männer hielten die Hand bergend vor den Mund, und Harka tat nach ihrem Beispiel.

      Mattotaupa begann, sich vom Bach weg in den Wald zurückzuziehen, die beiden anderen folgten ihm. Als sie eine gewisse Entfernung vom Bach gewonnen hatten, so dass man ein leises Wort dort nicht mehr hören konnte, begann Mattotaupa flüsternd zu berichten, was geschehen war, als er allein an der Quelle gewacht hatte.

      »Wisst«, sagte er, »nachdem Harka mich verlassen hatte, lag ich versteckt und beobachtete die Quelle. Einmal hörte ich weiter unten im Wald ein Reh. Wir haben Hunger im Dorf. Ich wollte mich aufmachen, um es mit dem Messer zu erlegen, und ich gestehe, ich war zu schnell, ich verließ mein Versteck, um von der Lichtung aus besser zu lauschen und sprungbereit zu sein. Nicht länger als du brauchst, um das Auge mit dem Lid zu bedecken, stand ich mit dem Rücken gegen die Quelle. Da fühlte ich einen Schlag gegen den Hinterkopf; ich sah nichts mehr, wusste aber noch von mir. Ich stürzte.«

      Mattotaupa machte eine Pause.

      »Ein Stein hatte dich getroffen?«, fragte Sonnenregen.

      »So war es. Er liegt noch am Bach. Habt ihr ihn nicht gesehen? Es ist kein Kiesel.«

      »Ich habe ihn gesehen«, sagte Harka.

      »Bald wurde es mir wieder licht vor den Augen«, erzählte Mattotaupa weiter. »Aber ich wusste nicht, wie der Stein durch die Luft hatte fliegen können und ob nicht ein Feind ihn geworfen hatte.


Скачать книгу