Im Schatten des Burn-outs. Pina Petersberg

Im Schatten des Burn-outs - Pina Petersberg


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wähnte.

      So hatte jeder sein Päckchen zu tragen. Die Fortschritte des Anthropozäns rasten voran so schnell wie ein Lichtstrahl, doch sie forderten einen hohen Preis.

       MISSBRAUCH

      Bild war dabei. Die Schlagzeile lautete: Missbrauch von Biokoka. Es ging wie ein Lauffeuer durch den Konzern: Offensichtlich hatte es einen Überfall im ICE Hamburg – München gegeben, unmittelbar nach dem Zwischenstopp in Würzburg. Zunächst hatte der Zug friedlich und unmerklich seine Fahrt bis auf 400 km/h beschleunigt. Ortschaften mit schmucken Einfamilienhäusern, Felder und Auen huschten vorüber. Die Reisenden dösten, lasen, telefonierten mit ihren Handys oder waren in ihre Laptops vertieft. Ein lebhafter – einige Gäste meinten auch hyperaktiver – vierjähriger Junge mit kurzen, schwarzen Haaren, offenbar zur Hälfte chinesischer Abstammung, stellte seinem Vater ununterbrochen und wissbegierig Warum-Fragen. Seine chinesische Mutter und die Oma saßen weiter vorn im Abteil und überließen dem deutschen Papa, der neben dem Sohnemann saß, die ausführliche Beantwortung. Er war sichtlich stolz auf seinen (alt)klugen Sprössling, nicht ahnend, wie sehr einige der Mitfahrenden dessen laute, durchdringende Stimme nervte. Frage reihte sich an Frage.

      „Nervig“, bemerkte die jüngere Frau gegenüber stirnrunzelnd und unwirsch. Ein älteres, ruhiges Ehepaar aus der Reihe dahinter wehrte sich lautstark gegen die Lärmbelästigung.

      „Er kann schon reden, nur nicht so laut.“ Der Vater schnappte hörbar ein. Nur wenige Minuten lang verlief die Fragerei etwas gedämpfter, ehe dieser Einwand in Vergessenheit geriet. Erleichterung kehrte erst ein, als die Familie für ein halbes Stündchen in den Bistrowagen einkehrte. Welche wohltuende Ruhe!

      Dann allerdings ratterte der transportable Wagen mit Kaffee und Snacks den Flur entlang, sodass niemand mehr eine Chance hatte, zur Toilette zu passieren.

      „Wünschen Sie Kaffee, Cappuccino, Erfrischungen, Biokoka?“, pries eine junge Rumänin mit deutlichem Akzent ihr Arsenal an. „Biokoka ist heute im Angebot“, fügte sie hinzu und lächelte verführerisch, denn sie erhielt eine, wenn auch geringe, Provision. Tatsächlich, Biokoka war der Renner. Zufrieden verließ sie das Abteil. Das muss der entscheidende Moment gewesen sein.

      „Wir erreichen in Kürze Nürnberg. Sie erreichen alle Anschlusszüge planmäßig“, kam die Ansage über Lautsprecher und das finale: „Thankyou for travelling wis Deutsche Bahn.“

      Die Familie mit der chinesischen Mutter, dem deutschen Vater, dem wissbegierigen Jungen und der Oma im Schlepptau kehrte nach einer halben Stunde gesättigt zurück.

      „Papa, warum schlafen die alle?“, fragte das Nesthäkchen erstaunt.

      „Weil sie müde sind.“

      „Papa, wo ist unsere Tasche?“, ließ sich der aufgeweckte Junge nicht beirren. Das war eine Schrecksekunde. Tatsächlich – die Reisetasche und auch der knallrote Trolley fehlten. Eine aufgeregte, hektische Suche begann, in deren Folge die übrigen Reisenden des Abteils erwachten, etwas ratlos. Auch sie vermissten einzelne Gepäckstücke oder Hand- und Brieftaschen, konnten sich aber im Gegensatz zu der bilingualen chinesischdeutschen Familie an die Details der letzten dreißig Minuten nicht erinnern. Es bestand eine Amnesie. Über Handy wurde die Polizei alarmiert. Urinproben wurden eingesammelt, eine Großrazzia gestartet. Schon am Nachmittag stand das Ergebnis fest: Biokoka war mit der Partydroge Liquid Ecstasy verunreinigt worden, einer Art K.-o.-Tropfen. Ein bekannter Serientäter hatte vor vielen Jahren sexuelle Handlungen an bewusstlosen Frauen mit Liquid Ecstasy vollzogen und war wegen zahlreichen Vergewaltigungen insgesamt zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden. Nun, hierzu war es Gott sei Dank nicht gekommen.

      Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man im Konzern über diese schockierende Schlagzeile, mutmaßte ergebnislos: „Welches Komplott kann nur hinter der potenziell den Ruf schädigenden Affäre stecken?“

      Fade wurde investigativ mit der näheren Ursachenanalyse beauftragt und erstellte zunächst mit einer Projektgruppe ein fischförmiges Ishikawa-Diagramm mit den Rubriken Mensch, Natur, Maschine und Technik für die Fehlersuche. In einer Sondersitzung sollten uns die Ergebnisse dargelegt werden. Er präsentierte eine PowerPoint, während die hübsche Assistentin Yolanthe, modisch im kleinen schwarzen Mini, nicht von seiner Seite wich und artig und adrett mit den billigen Porzellantassen für Tee und Kaffee schepperte. Auch half sie ihm bei der Technik auf die Sprünge, wenn er mit erlernter Hilflosigkeit Blickkontakt suchte oder ins Leere zu greifen drohte.

      „Die chemische Analyse der entsprechenden Serie hat Verunreinigungen mit Liquid Ecstasy ergeben. Eigentlich schmeckt es bitter, aber diese potenzielle Geschmacksirritation wurde mit Orangensaft neutralisiert“, führte er aus.

      „Wo vermuten Sie die Sicherheitslücke, die diesen Sabotageakt ermöglichte?“, fragte Panther streng und zog nun seinerseits irritiert asymmetrisch seine Augenbrauen hoch in die von tiefen Querfurchen zerpflügte Denkerstirn als Zeichen hochgradiger Anspannung, zum Äußersten entschlossen.

      „Nun …“ Fade zögerte, deutlich verunsichert durch diese direkte Frage, die keinerlei Ausweichen ermöglichte. „Es gibt verschiedene Indizien, aber keine sichere Spur“, versuchte er, Zeit zu gewinnen. Panther trommelte ungeduldig im Bonanza-Takt auf sein Rednerpult. Die Beklemmung im Saal stieg und die verbrauchte, mit Kohlendioxid überladene Luft war zum Zerreißen gespannt. In diesem Moment brach die Technik zusammen, vermutlich ein Wackelkontakt oder eine Inkompatibilität der Programme. Fade und Yolanthe widmeten sich nun hastig einer diesbezüglichen Fehlersuche.

      „Pina“, befahl Panther streng, „aufgrund Ihrer Kompetenz in Qualitätssicherung lösen Sie Fade bei der weiteren Investigation des Missbrauchsskandals ab und übernehmen das Rruder.“ Da war es wieder, dieses einschüchternde, angsteinflößende, rollende „r“. „Falls es Ihnen zu viel wird, delegieren Sie an die Kriminalpolizei“, fügte er trocken hinzu. „Die Sitzung wird bis auf Weiteres vertagt!“

      Energisch bekräftigend klopfte er zweimal auf das Rednerpult und die Versammlung war beendet, während ich meinen Ohren nicht trauen wollte und ein feines Ziehen in der Magengegend verspürte, gefolgt von einem bitteren Geschmack wie von Liquid-Ecstasy.

       BURN-OUT-EPIDEMIE

      Vor einhundert Jahren gab es schon einmal eine allgemeine quälende Erschöpfung, die damals Neurasthenie genannt wurde. Das vegetative Nervensystem gerät ins Ungleichgewicht und man fährt zur Kur. Freud sexualisierte diese Störung und machte ein Übermaß an Masturbation dafür verantwortlich. Im Übrigen wurden Konkurrenzdruck und Industrialisierung ursächlich einbezogen. Heute, im Zeitalter der digitalen Revolution, heißt es Burn-out. Im Grunde genommen wiederholt sich alles auf einem (höheren?) Niveau. Der Hegelsche Weltgeist ist in Perfektion begriffen. Geprägt hat den Begriff „Burn-out“ der Psychoanalytiker Freudenberger, der das Phänomen an sich selbst nach exzessivem Arbeiten und Schlafmangel beobachtet hat. Es entwickelt sich schleichend, sozusagen durch die Hintertür, aber legt seitdem ganze Betriebe lahm, wie eine Virus-Epidemie. Die Mitarbeiter im Konzern halten nicht Schritt mit der Beschleunigung in der modernen Zeit, hecheln ihr im Hamsterrad gefangen hinterher. Es gibt den Zwang, sich beständig zu wandeln. Flüchtige Kontakte unter Fremden. Beständig ist nur die Unbeständigkeit, die orkanartige Beschleunigung der Zeit, die jedes Gefühl betäubt. Gesundung hat nur ein Ziel: Die leistungsstarke Rückkehr in das Hamsterrad, um Tempo zu gewinnen.

      Auch ich fühlte diese quälende Schlaflosigkeit und grübelte mit Schrecken darüber, wie ich den nächsten Tag mit allen seinen Anforderungen übermüdet überstehen sollte, kam kaum noch zur Ruhe, fühlte mich verbittert, deprimiert und immer wieder todmüde und ausgelaugt. Ein schuldiges Subjekt, denn es gelang mir nicht, die elektronischen Aktenberge zu erklimmen und meine E-Mails zu lesen, geschweige denn zu beantworten. Ich versetzte in letzter Minute Freunde an Geburtstagen mit einer fadenscheinigen Entschuldigung, weil ich den Kalendereintrag einfach übersehen hatte. Ich wagte es vor Scham nicht, selbst anzurufen, sondern bat Felix, uns zu entschuldigen. Abends war ich häufig zu müde, um mit ihm auszugehen. Ich nickte auf dem Sofa ein und schleppte mich erst weit nach Mitternacht in unser Kämmerlein,


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