Im Kreuzfeuer. Christian Wehrschütz
Attentäter in Belgrad mehrmals vor Gericht gestanden sind.
Klar ist jedenfalls, dass Arkan auch im kroatischen Vukovar im Einsatz war. Vukovar fiel Ende November 1991 in die Hände der damals nominell noch bestehenden Jugoslawischen Volksarmee. Die Stadt wurde weitgehend zerstört, massive Kriegsverbrechen folgten. Lipovac liegt nicht weit von Vukovar entfernt und soll noch schlimmer ausgesehen haben, erzählt Bürgermeister Ivica Klein. Entdeckt wurde auch ein Grab mit mehr als 20 Leichen, zehn Bewohner aus der Gemeinde werden noch immer vermisst. Klein kehrte das erste Mal am 15. Mai 1996 in seine Heimatgemeinde zurück; damals habe es nicht einmal genügend Raum zur Unterbringung der Entminungsteams gegeben. Doch bereits im November setze die erste Rückkehrer-Welle ein. Anfang Dezember besuchte Staatspräsident Franjo Tuđman die Gemeinde. Doch natürlich kamen nicht alle Vertriebenen oder Flüchtlinge zurück. So verlor die Gespannschaft Vukovar-Syrmien zwischen 1991 und 2001 mehr als zehn Prozent ihrer Einwohner. Trotzdem wurde beim Wiederaufbau viel geleistet. 13 Jahre nach dem Krieg sind keine direkten Schäden mehr zu bemerken; waren bei Kriegsende mehr als 50 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche minenverseucht, sind es nun weniger als fünf Prozent. Für Lipovac ist das sehr wichtig, weil dort Getreide und Viehzucht zur Haupteinnahmequelle zählen, und der Ort vor allem den ländlichen Tourismus entwickeln will. Denn in der Umgebung von Lipovac lässt es sich gut Wandern und Jagen, etwa im Wald von Spaeva, der einer der größten erhaltenen Steineichenwälder Europas sein soll. Fischen kann man an den nahegelegenen Flüssen Spaeva und am Bosut.
Im Gegensatz zur Donau ist die kroatisch-serbische Grenze bei Lipovac bereits demarkiert, und auch ein kleiner Grenzverkehr wurde eingerichtet. In der Gemeinde leben 12 Prozent Serben. Trotzdem zeigen Lipovac und die historische Region Srem/Srijem, in welch großem Ausmaß die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts aus multiethnischen Gebieten ethnisch weitgehend homogene Territorien gemacht hat. Dabei geht es nicht nur um den Zweiten Weltkrieg oder den blutigen Zerfall Jugoslawiens, sondern natürlich auch um andere Faktoren wie etwa die zwischen 1945 und 1948 staatlich betriebene Zuwanderung aus anderen Teilrepubliken. In nicht wenigen Fällen erhielten dabei sogenannte „Kolonisten“ Land und Häuser, die vertriebenen Deutschen gehört hatten. Wie sehr sich die nationale Zusammensetzung der historischen Region geändert hat, zeigen Volkszählungen. So lebten 1910 in Srem/Sriejm 414.234 Einwohner; Knapp 46 Prozent waren Serben, 24 Prozent Kroaten und 30 Prozent andere Volksgruppen (Deutsche, Ungarn usw.). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden allein im östlichen, serbischen Teil knapp 29.000 neue Bewohner angesiedelt. Obwohl die Region bis 1991 nur administrativ geteilt war, erfolgte im kroatischen Teil eine „Kroatisierung“ und im serbischen Teil eine „Serbisierung“ der Region. Diese ethnische Homogenisierung wurde durch den Krieg im ehemaligen Jugoslawien noch drastisch verstärkt. So lebten 1948 im westlichen Teil 70 Prozent Kroaten und 20 Prozent Serben; 2001 waren es 78 Prozent Kroaten und 15 Prozent Serben. Praktisch am Verschwinden waren die Minderheiten; so sank der Anteil der Ungarn von 4,4 auf 1,0 Prozent. Noch drastischer ist das Bild im östlichen, also serbischen Teil: Von 1948 bis zur Volkszählung 2002 stieg der Anteil der Serben von 72 auf 85 Prozent, währen der Anteil der Kroaten von 13,0 auf 2,6 Prozent sank. Was die übrigen Minderheiten betrifft, so sind sie auch im serbischen Teil der Provinz am Verschwinden.3)
All das wusste ich natürlich nicht, als ich im Februar 2000 froh war, mit dem Mercedes-Transporter endlich die kroatisch-serbische Grenze bei Lipovac erreicht zu haben. Heute sehe ich die Chance, dass unter dem Dach der EU diese Grenze dereinst verschwinden und Srem/Srijem wieder zu einer Europa-Region zusammenwachsen könnte. Doch dazu muss Serbien erst EU-reif werden, und dieser Prozess wird noch einige Jahre dauern, obwohl bei gutem Willen auf beiden Seiten, eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit natürlich bereits heute beginnen könnte. Diese Perspektive sieht auch Bürgermeister Ivica Klein in Lipovac; seine Gemeinde hat auf den Straßenschildern an der Autobahn bereits weitgehend der Bezeichnung Slavonski Brod Platz machen müssen. Vielleicht wird die kroatische Straßenverwaltung dereinst auch bereit sein, im Großraum Agram ein Schild mit der Aufschrift „Belgrad“ zu montieren, wenn sich die bilateralen Beziehungen mit Serbien noch weiter normalisiert haben werden.
Darüber und über meine Anreise denke ich oft nach, wenn ich mit unserem langjährigen Fahrer Vlada die Grenze passiere. Das ORF-Büro in Belgrad hat übrigens kein eigenes Auto, weil alle Drehteams ohnedies ihre eigenen Fahrzeuge haben. Taxis und Fahrer sind noch immer weit billiger und sicherer als Kauf und Instandhaltung eines eigenen Autos. Dieses Fahrzeug müsste zudem auf bewachten Parkplätzen stehen, und obendrein gibt es weder vor der Wohnung noch vor dem Büro einen solchen. Außerdem hatten Ausländer zunächst eine weit höhere Maut als Inländer zu bezahlen. Den Mercedes-Transporter haben wir bereits 2000, wenige Monate nach dem Ende des Flugembargos, nach Wien zurückgebracht. In Belgrad nutzte ich ihn aus der begründeten Angst vor Diebstählen nur einmal, und das hätte für mich leicht fatale Folgen haben können. Ich war zur Villa gefahren, in der auch das alte Büro untergebracht war, um die Übersiedlung vorzubereiten. An der abschüssigen Straße, die im Winter ein Alptraum für jeden Fahrer ist, gab es keine Parkplätze. Daher stand der Transporter direkt neben der Hausmauer, und man konnte nur über den Beifahrersitz einsteigen. Als ich an diesem Tag meine Arbeit beendet hatte, ins Auto einstieg und starten wollte, merkte ich, dass jemand versucht hatte das Startschloss zu manipulieren. Die Diebe hatten zwar professionell die Tür geöffnet, waren aber an der Sicherung des Fahrzeuges gescheitert; dabei hatten sie Schloss und Zündung beschädigt. Mir wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, was hätte geschehen können, hätte ich die Gauner überrascht, als einer von ihnen noch im Auto saß. Ohne entsprechenden Fluchtweg hätte der versuchte Diebstahl für mich letale Folgen haben können. Sofort verständigte ich mein Drehteam und die Polizei. Nach der Aufnahme aller Daten brachten wir das Auto mit Mühe in Gang, fuhren zum Hotel auf den bewachten Parkplatz und dann zur Mercedes-Niederlassung in Belgrad, einer Firma, die auch in der Zeit der Krise gute Geschäfte in Serbien machte. Der Ersatzteil war nicht auf Lager und es dauerte Wochen, bis er in Belgrad eintraf. Nach der Reparatur und meiner Übersiedlung in die neue Wohnung stand das Auto wochenlang auf dem Parkplatz der österreichischen Botschaft in Belgrad, die uns damals diese Amtshilfe gewährte. Im Sommer brachte ich dann das Auto nach Wien zurück, allerdings über Ungarn und nicht über Lipovac. Dass die Diebe nie gefunden wurden, versteht sich von selbst.
Anmerkungen
1) Grenzstadt zwischen der Monarchie und dem Königreich Serbien war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Zemun, das nun ein Vorort von Belgrad ist. Zemun ist das historische Semlin, das im „Prinz-Eugen-Lied“ als jener Platz besungen wird, von dem aus Prinz Eugen 1717 Belgrad angriff „alle Türken zu verjagen ihn’n zum Spott und zum Verdruß“.
2) Die Daten über die Kriegszeit und über die aktuelle Lage in Lipovac und der Gemeinde Nijemci stammen aus einem Gespräch des Autors mit Bürgermeister Ivica Klein. Die Angaben zur Bevölkerungsentwicklung in Srem/Srijem entstammen der Aufsatzsammlung „Identitet Srijema u prošlosti i sadašnjosti“, herausgegeben in Nijemci im Dezember 2008.
3) Das Paradoxe dieses Prozesses liegt darin, dass die sogenannte internationale Staatengemeinschaft in allen ihren Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien stets das moralische Banner der Multiethnizität vor sich hertrug und in abgeschwächter Form im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina noch immer vor sich herträgt. Übrig blieben im ehemaligen Jugoslawien jedoch national weitgehend homogene Staaten mit teilweise fragwürdigen Minderheiten-Gesetzgebungen. Die einzigen Ausnahmen bilden in gewisser Weise ausgerechnet Serbien und Montenegro mit einem noch relevanten Anteil an Ungarn und Albanern sowie an Bosniaken und Albanern. Bosnien und Herzegowina hat drei konstitutive Völker (Bosniaken, Serben und Kroaten), Mazedonien mit einem Albaner-Anteil von 25 Prozent hat eigentlich ebenfalls zwei Staatsvölker. Die tatsächlichen Rechte der übrigen nationalen Minderheiten sind vor allem in Bosnien praktisch nicht vorhanden, weil alle relevanten Ämter nur den drei Völkern offenstehen.