Im Kreuzfeuer. Christian Wehrschütz
dass die Sprachenfrage weit mehr ist als eine Marotte, die in den betroffenen Staaten auch für tagespolitisches Kleingeld verwendet wird. (So wurde etwa der kroatische Staatsgründer Franjo Tuđman in Kroatien dafür kritisiert, dass er bei einem offiziellen Anlass statt sretno (froh, glücklich) srečno gesagt hatte.) Vielmehr sind damit auch Kosten verbunden, die der europäische Steuerzahler bereits jetzt mitzutragen hat und die noch größer werden dürften, sollten Kroatien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Serbien dereinst alle EU-Mitglieder sein. Doch zunächst zur historischen Entwicklung. War die politische Führung mit ihrer Sprachenpolitik im ehemaligen Jugoslawien bestrebt, die vorhandenen Unterschiede einzuebnen, so setzte mit und nach dem Zerfall des gemeinsamen Staates der gegenläufige Trend ein. Trennung war angesagt, und Kroatien soll seine Linguisten sogar zu den burgenländischen Kroaten entsandt haben, um zu den Wurzeln der kroatischen Sprache zurückkehren zu können. Völlig beseitigt wurde natürlich der Unterricht der kyrillischen Schrift, mit Ausnahme in jenen Schulen, die die serbische Minderheit in Kroatien besucht. Je weiter die Kriegszeit zurückliegt, je mehr sich die kroatische Nation festigt und je mehr die „Angst“ vor einem neuen Jugoslawien schwindet, desto ungezwungener wird auch der Sprachgebrauch werden, jedenfalls im täglichen Leben. Trotzdem lässt sich in der Bürokratie und beim Protokoll noch immer für Verwirrung sorgen, wenn man als Ausländer mit „Serbisch“ auftritt. So war vor einigen Jahren Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf Besuch in Agram/Zagreb. Am Abend gab es einen Empfang, zu dem Journalisten jedoch nicht zugelassen waren, doch der Bundeskanzler wollte mich sprechen. Beim Eingang teilte ich den Sicherheitsbeamten mit, ich sei der Korrespondent des ORF, und der Bundeskanzler wollte mich sprechen. Nach einigem Hin und Her gelang es einem Vertreter der österreichischen Botschaft, mich ins Gebäude zu bringen. Auf dem Weg zum Kanzler erzählt mir der Diplomat, ein kroatischer Protokollbeamter sei ganz ungläubig gekommen und habe gesagt: „Draußen steht ein Journalist, der behauptet, der Bundeskanzler wolle in sprechen; er behauptet Österreicher zu sein, doch er spricht Serbisch.“
Solche Anekdoten bereichern das journalistische Leben; doch wie katastrophal die Folgen einer verfehlten Sprachenpolitik für ein Land sein können, zeigt das Beispiel von Bosnien und Herzegowina. Dort gibt es drei offizielle Sprachen: Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Bereits die Bezeichnung „Bosnisch“ wird in Bosnien von Kroaten und Serben als eine Art der sprachlichen Hegemonie abgelehnt. Für diese beiden Volksgruppen ist aber „Bosniakisch“ annehmbar als Bezeichnung der Sprache, die die Bosniaken, die Muslime in Bosnien, sprechen. Doch abgesehen von der Bezeichnung hat auch die Existenz der drei sogenannten Sprachen der drei konstitutiven Völker dieses Staates mit etwa vier Millionen Einwohnern praktische Folgen. Offizielle Texte werden in drei Sprachen und zwei Alphabete (Latein und Kyrillisch) übersetzt, obwohl man Unterschiede oft mit der Lupe suchen muss. Dessen sind sich natürlich auch Politiker, Bürokraten und Juristen aller drei Volksgruppen bewusst; sie haben daher ihr Möglichstes getan, um künstlich Unterschiede zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist das eingangs abgedruckte Plakat, auf dem Bosnisch, Serbisch und Kroatisch „Wahlkommission“ zu lesen steht; das Bosnische unterscheidet sich vom Serbischen nur durch die Schrift, vom Kroatischen aber dadurch, dass für das Wort Kommission ein eigenes kroatisches Wort verwendet wird. Das wirkt sich natürlich bei der Rechtsterminologie besonders negativ aus, weil es die Bildung eines einheitlichen Rechtsraumes zusätzlich erschwert. Zum Tragen kommt diese Sprachenpolitik auch bei internationalen Verträgen, wie das Beispiel des Doppelbesteuerungsabkommens zeigt, das Bosnien und Herzegowina mit Österreich 2008 unterzeichnet hat. Das Papier wurde in fünf Sprachen unterfertigt: Deutsch, Englisch, Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Die Fama berichtet, dass eine Sachbearbeiterin in Österreich in Sarajevo nachgefragt haben soll, ob nicht irrtümlich zweimal dieselbe Fassung (Bosnisch/Kroatisch) nach Wien übermittelt wurde. Eine Überprüfung ergab nur minimale sprachliche Unterschiede zwischen beiden Texten. Vereinbart wird in derartigen Fällen, dass zur Vertragsauslegung das Dokument in englischer Sprache herangezogen wird. Das Beispiel des Doppelbesteuerungsabkommens lässt erahnen, in welchem Ausmaß sinnlos Papier produziert wird, denn was für Österreich gilt, wird wohl auch für die Rechtstexte der EU gelten. Deren gemeinsamer Rechtsbestand umfasst etwa hunderttausend Seiten. Dabei zeigt gerade die EU-Annäherung, dass Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro von der gemeinsamen Sprache profitieren können. Der Rechtsbestand wurde bereits ins Kroatische übersetzt, und Serbien und Montenegro möchten davon auch Gebrauch machen; doch bisher soll es nicht zur Weitergabe der Übersetzungen gekommen sein, denn dann könnte in der EU wohl jemand auf die Idee kommen, die Sprachen der vier Beitrittswerber als eine Sprache zu begreifen. Im Sand verlaufen sind bisher auch alle zaghaften Initiativen in Brüssel, diese vier Staaten auf dem Weg Richtung EU zu einer gemeinsamen Sprache zu bewegen. Doch was im Fall Österreichs und Deutschlands möglich ist, sollte erst recht für das ehemalige Jugoslawien durchsetzbar sein, um Kosten zu sparen und die Effizienz in Brüssel und auf dem Balkan ein wenig zu steigern.
Die Sprachentrennung macht jedenfalls das ohnehin komplizierte und kaum regierbare bosnische Staatswesen nicht nur noch teurer. Sie erschwert auch das Zusammenwachsen der drei Volksgruppen, die im Grund genommen nur miteinander leben, weil es die USA und die europäischen Mittelmächte am Ende des Bosnien-Krieges 1995 so wollten. Wie mühsam dieses Zusammenwachsen auch noch mehr als zehn Jahre nach Kriegsende ist, zeigt der Schulunterricht. Zwar gehen Bosniaken, Kroaten und Serben in gemischten Gebieten nun wieder in dieselbe Schule, doch das Gemeinsame beschränkt sich oft auf das Gebäude und die Pausen. Denn gelehrt werden natürlich die drei Sprachen, und auch die Lehrpläne sind in politisch besonders sensiblen Fächern ebenso getrennt wie die Schulbücher. Was die Sprachen betrifft, wäre das etwa so, als würde für deutsche Schüler, die in Österreich in die Schule gehen, und für Österreicher, die Schulen in Deutschland besuchen, ein eigener Sprachunterricht bestehen. In Bosnien trägt somit das Bildungswesen zur fortgesetzten Trennung der Volksgruppen bei, anstelle verbindend und integrierend zu wirken. Viele „Internationale“ in Bosnien sind sich dieses äußerst fragwürdigen Zustands natürlich bewusst; daher kursierte unter ihnen auch folgender Witz: „Was ist eine Sprache? Ein Dialekt, der eine Armee hinter sich hat.“
Wie zutreffend dieser Witz ist, zeigt das Beispiel Montenegro, obwohl dort die Streitkräfte erst aufgebaut werden. Neben Serbien war Montenegro der einzige Staat, der vor dem Zerfall des alten Jugoslawien bereits auf dessen Territorium bestanden hatte. Sein bedeutendster Politiker und geistlicher Führer war Petar II., Petrović Njegoš, der von 1830 bis 1851 Montenegro als „Fürstbischof“ regierte. Sein Werk Der Bergkranz, dessen Erstausgabe 1847 in Wien gedruckt wurde, zählt zu den bedeutendsten Werken der serbischen Literatur.
Obwohl im Ersten Weltkrieg auf der Seite der Westmächte, wurde Montenegro nach 1918 an Serbien angeschlossen und verschwand von der Landkarte. Nach 1945 wurde Montenegro eine Teilrepublik des kommunistischen Jugoslawien. Die Bindungen zwischen Montenegro und Serbien waren so stark, dass Montenegro als einzige Teilrepublik auch nach dem blutigen Zerfall des alten Jugoslawien bei Serbien verblieb. Je mehr der Stern von Slobodan Milošević verblasste, desto stärker wurde auch der Widerstand in Montenegro, und 1998 kam es zum Bruch. Milo Đukanović, seit 1991 Ministerpräsident, setzte sich im innerparteilichen Machtkampf gegen die Milošević-Anhänger durch und siegte auch mit hauchdünner Mehrheit bei der Präsidentenwahl 1998. Damit begann die schrittweise politische Abspaltung, von der Einführung der Deutschen Mark als eigener Währung, die später durch den Euro ersetzt wurde, bis zur Übernahme der Kontrolle an den Grenzen; auch die staatlich betriebene Rückbesinnung auf die eigene Geschichte setzte ein. Dazu zählte die Herausgabe eigener Schulbücher, die bis dahin aus Serbien gekommen waren. An den Grenzen kam es zur Aufstellung von Schildern mit der Aufschrift Republik Montenegro, obwohl die Republik als Staat international noch gar nicht anerkannt war.
Trotz all dieser Maßnahmen zur Nationsbildung war Montenegro in der Frage der Loslösung von Serbien tief gespalten, weil sich etwa 30 Prozent der Bevölkerung als Teil der serbischen Nation begreifen. Daher kam es nach dem Ende der Ära Milošević in Serbien zunächst zur Bildung des Staatenbundes Serbien und Montenegro, einer Fehlgeburt, die drei Jahre dahinvegetierte und 2006 aufgelöst wurde. Denn acht Jahre nach dem Bruch zwischen Milošević und Đukanović Ende Mai 2006 stimmten schließlich beim Unabhängigkeitsreferendum 55,5 Prozent der Bevölkerung für die Selbständigkeit. Die 55-Prozent-Hürde, die die Europäische Union für die Anerkennung der Unabhängigkeit vorgegebenen hatte,