Der gläserne Vogel. Albrecht Gralle

Der gläserne Vogel - Albrecht Gralle


Скачать книгу

      Sie ging zur Tür und machte auf.

      Draußen stand tatsächlich Phil, der einen wirren Ausdruck im Gesicht hatte und dessen schwarze Haare mit Tannennadeln durchsetzt waren.

      „Phil!“, rief Gina überrascht. „Wie siehst du denn aus? Bist du durch das Unterholz gerobbt?“

      Phil antwortete nicht, sondern trat auf den Flur und sagte schwer atmend: „Gut, dass du auch da bist, Gina. Dann kann ich … kann ich euch beiden gleich die Sache erzählen.“

      „Was denn für eine Sache?“, fragte Joker, der aus der Küche kam.

      Aber Phil antwortete nicht gleich, sondern fragte: „Hast du was zu trinken?“

      Joker wies auf den Kühlschrank. „Bedien dich. Du weißt ja, wo die Gläser stehen. Oder es gibt noch heiße Schoko …“

      „Das ist meine Schokolade“, rief Gina und hielt beschützend ihre Hände über den Topf auf dem Herd.

      Phil kümmerte sich nicht darum, nahm sich die Cola aus dem Fach, goss sich ein Glas davon ein und stürzte das meiste in einem Zug hinunter.

      Dann setzte er sich zu den anderen beiden und sah sie merkwürdig schweigsam an.

      „Und?“, fragte Joker. „Was ist denn nun passiert? Bist du einem grünen Männchen begegnet?“

      Phil räusperte sich. „Also, hört zu und sagt nicht gleich: Das glaub ich nicht …“

      „Hast du auch die Geschichte mit dem Schaf gelesen?“, wollte Joker wissen.

      „Was für ein Schaf?“

      „Nun lass ihn doch erst mal ausreden!“, rief Gina aufgebracht dazwischen.

      „Ist ja gut“, brummte Joker.

      Phil atmete tief ein und aus und fing endlich an zu erzählen:

      „Ihr wisst ja, dass ich gelegentlich durch den Wald strolche, besonders neben den Wegen.“

      Die anderen nickten stumm.

      „Also, dieses Naturschutzgebiet am Hummelbach hat mich ja schon immer gereizt: vermoderte Baumstämme, seltene Blumen und so. Und Zäune waren für mich noch nie ein Hindernis. Ich steige also über den Zaun bei der Tannenschonung und streiche durchs Unterholz. Ich geh weiter in das Dickicht, um vielleicht ein kleines geheimes Versteck auszukundschaften, wo wir mal ein Picknick machen könnten. Da seh ich irgendwas Rundes, Helles am Boden liegen.

      Ich geh näher ran, und da liegt eine große Kugel vor mir. So groß wie ein … ein Sitzball. Und die Kugel scheint aus Glas oder aus irgendeinem durchsichtigen Material zu sein. Vorsichtig geh ich also näher ran, um das Ding besser betrachten zu können. Und weil es eben aus so einem glasartigen Material ist, denke ich, da werden sich ja dann Bäume und mein Gesicht widerspiegeln, natürlich verzerrt und so. Und …“, Phil stockte und trank den Rest Cola aus seinem Glas, während Gina sich das nächste Hefestück genehmigte.

      „Da waren auch Bäume und Sträucher zu sehen, natürlich leicht gebogen, aber auch noch anderes: Häuser, Straßen, und dann sah ich etwas Seltsames. Eine Gestalt, die vorbeilief und kleiner wurde.“

      Joker verzog seinen Mund: „Was? Das kann doch nicht sein!“

      „Ich hab’s auch nicht geglaubt. Und dann wollte ich wissen, wie sich die Oberfläche von der Kugel anfühlte und streckte meine Hand aus. Und was … was soll ich euch sagen? Es war gar kein Glas, es sah nur so aus. Ich … ich konnte meine Hand da reintauchen, und es fühlte sich nur leicht kühl an und wie Nebel. Schnell zog ich sie zurück und sah sie besorgt an. Aber an meiner Hand war nichts zu sehen.“

      Joker wiegte den Kopf hin und her. „Hm“, sagte er. „Komisch. Und du willst uns echt nicht verkohlen?“

      Gina schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass Phils leeres Glas bedenklich schwankte.

      „Sieht so jemand aus, der einen verkohlen will? So was würde sich Phil nie ausdenken!“

      „Du hast recht“, nickte Joker. „Darauf würde er selbst nie kommen.“

      „Danke für das reizende Kompliment, Joker“, sagte Phil.

      „Gern geschehen.“

      „Okay“, begann Gina. „Und was sollen wir nun machen?“

      „Was wir machen sollen? Das fragst du noch?“ Joker starrte Gina erstaunt an. „Natürlich gehen wir in den Wald, um dieses seltsame Ding unter die Lupe zu nehmen. Ist doch klar.“

      „Meint ihr wirklich, wir sollen da hin?“, fragte Gina zweifelnd. „Das … das hört sich ganz schön unheimlich an.“

      „Wir sind ja dann zu dritt.“ Joker stand auf. „Los, kommt!“

      Sie standen auf. Gina stellte ihren leeren Becher in die Spüle, während Joker seine Sportschuhe anzog.

      „Ich sag bloß schnell deiner Mutter Bescheid“, rief Gina und rannte ins Wohnzimmer. Als sie zurückkam, sagte Joker: „Man könnte meinen, du gehörst schon zur Familie.“

      „Wieso? Deine Mutter muss doch wissen, dass du unterwegs bist.“

      „Das wird sie schon selber merken.“

      „Typisch Jungs!“

      Es war ein sonniger Nachmittag im April, und überall sah man, wie es sprosste und blühte. Der dunkelbraune Blätterteppich im Wald wurde schon von einem grünen, weißen Flaum überwachsen, und an den Buchen und Eichen öffneten sich die dicken, klebrigen Knospen.

      Als die Kinder auf dem Waldweg entlanggingen, kamen ihnen zwar einige Hundebesitzer entgegen, aber sonst war nicht viel los.

      Schweigend folgten sie dem federnden Waldweg, bis er sich gabelte.

      „Hier entlang“, sagte Phil und wies nach links. Es ging leicht bergab, und der Weg wurde schmaler und steiniger. Schließlich endete er vor einem Zaun.

      „Das ist die Tannenschonung, die zum Naturschutzgebiet gehört“, erklärte er. „Da müssen wir rein.“

      „Okay“, sagte Joker. „Scheint im Augenblick keiner da zu sein. Also rüber.“

      Bald hatten sie die Stelle erreicht, von der Phil berichtet hatte, und tatsächlich lag da eine große, glatte Kugel und schien auf sie gewartet zu haben.

      Zögernd berührten sie die Oberfläche, die gar keine richtige Oberfläche war.

      Dann sahen sie sich an.

      „Wirklich seltsam“, flüsterte Gina und fuhr sich durch ihre kurzen roten Haare. „So was habe ich noch nie gesehen. Was ist das bloß?“

      „Wenn die Kugel unseren Händen nichts tut, wäre es doch interessant, mal mit dem Kopf reinzuschauen …“, meinte Joker.

      „Bist du verrückt?“, rief Gina. „Nachher bleibt dein Kopf drin und ich muss deiner Mutter erklären, dass du in einer großen Kugel steckst.“

      „Tja, dann wäre es wohl mit dem Hefekuchen erstmal vorbei.“

      „Hm“, sagte Phil. „Aber ich kann Joker gut verstehen. Mich plagt die Neugier auch gewaltig, das kann ich euch sagen.“

      Und bevor ihn jemand hindern konnte, trat er zu der Kugel und steckte seinen Kopf hinein.

      Und nun passierte etwas Schreckliches: Phil konnte sich an der weichen Oberfläche mit den Händen nicht festhalten, fiel mit einem singenden Geräusch in die Kugel und war verschwunden.

      Die zwei Übriggebliebenen schrien auf und traten schaudernd zurück.

      „Dio mio!“, rief Gina enstetzt, „Phil ist verschwunden! Was machen wir jetzt? Wären wir bloß nicht hierhergekommen!“

      „Mist!“, knurrte Joker und biss sich auf die Unterlippe. Nach ein paar Sekunden hörten sie wieder ein singendes Geräusch, und Phil


Скачать книгу