Der gläserne Vogel. Albrecht Gralle

Der gläserne Vogel - Albrecht Gralle


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Wenn uns die Eingeborenen nicht fesseln und langsam über dem Feuer braten.“

      Phil hob den Finger. „Hört mal!“

      Die anderen zwei erstarrten und horchten.

      „Hört sich an wie Autos aus der Ferne.“

      „Stimmt“, nickte Joker. „Also, die Eingeborenen fahren mit Autos herum, irgendwie beruhigend.“

      Langsam gingen die Kinder weiter mit wachen Sinnen und offenen Augen, aber es passierte nichts. Im Gegenteil, dieser Teil des Waldes war sogar besonders schön, mit seinen hohen Bäumen und dem saftigen Grün der Blätter, die gegen das Sonnenlicht hunderte von verschiedenen Grüntönen erkennen ließen. Der Weg schien seit Ewigkeiten nicht mehr begangen worden zu sein, denn er war von Gras und Blumen überwuchert.

      „Ich kann‘s immer noch nicht ganz glauben, dass wir in einem anderen unbekannten Wald sind“, meinte Gina nach einer Weile. „Und die Zeit spielt keine Rolle mehr.“ Sie blieb stehen und schrie: „Hallo, wir sind in einem zeitlosen Waahald!“

      „He! Bist du verrückt?“, rief Phil. „Wenn uns einer hört!“

      „Wer soll uns denn hören, Phil?“ Joker zuckte mit den Schultern. „Hier sind doch nur Vögel und irgendwelche Waldtiere.“

      Über den Kindern zwitscherten tatsächlich ein paar Vögel, und an einem Buchenstamm sah Joker ein Eichhörnchen.

      „Schaut mal, ein Eichhörnchen!“

      „Wo?“

      Alle blieben stehen. „Bei dieser großen Buche da hinten!“

      Jetzt sahen es die anderen auch. Es sah lustig aus, wie das Tier nach oben raste, sich bewegungslos an der Rinde festkrallte und dann den Kopf hin- und herbewegte.

      „Niedlich“, lachte Gina.

      Sie gingen weiter und merkten, dass die Hitze zunahm, als sie den Wald verlassen hatten. Vom Waldrand aus sahen sie die Straße und blieben stehen. Es war eine normale Asphaltstraße mit weißen Strichen in der Mitte.

      „Wir müssen uns die Stelle merken, wo der Waldweg abbiegt“, sagte Phil. „Hier unten bei diesem komischen Stein, neben der Straße.“

      „Au!“, rief Gina und fasste sich am Kopf. „Jemand hat irgendwas nach mir geworfen!“

      Erschrocken drehten sich die Kinder um und starrten in den stillen Wald. Aber es war niemand zu sehen.

      „Vielleicht ist ein … ein Tannenzapfen heruntergefallen“, schlug Joker vor.

      „Toll! Hier stehen aber gerade Buchen und keine Tannen oder Fichten!

      „Kommt, lasst uns auf die Straße gehen und …“, sagte Phil, aber er wurde von etwas unterbochen, denn er schrie: „Au!“ und fasste sich am Kopf. „Was war das?“

      „Verdammt! Irgendjemand wirft mit Nüssen nach uns!“, sagte Gina, bückte sich und hob eine Haselnuss auf. „Eine Frechheit! Wenn ich den Kerl erwische, dann …“

      „Aua!“ Jetzt war Phil an der Reihe, getroffen zu werden. „Lasst uns aus dem Wald verschwinden!“, rief er und zog die anderen mit sich fort. Eine Nuss flog knapp an seinem rechten Ohr vorbei. Und Joker wurde zum zweitenmal getroffen. Blitzschnell drehte er sich um. Dann kratzte er sich am Kopf und fing plötzlich an zu lachen.

      „Sag mal, spinnst du?“ Gina blieb stehen und blickte ihren Freund ärgerlich an.

      „Das glaubt mir keiner“, lachte Joker. „Ich glaub‘s ja selber kaum.“

      „Was denn?“

      Joker schüttelte nur den Kopf. „Das kann nicht sein!“

      Gina rüttelte ihn hin und her. „Bist du total verblödet? Was ist denn los?“

      Joker atmete tief durch. „Ob ihr‘s glaubt oder nicht, aber als ich mich vorhin blitzschnell umgedreht habe, kam es mir vor, als ob ein Eichhörnchen Nüsse nach uns geworfen hat, dieses niedliche Eichhörnchen von vorhin. Ich weiß, es ist völliger Quatsch.“

      Er holte tief Luft. „Ich seh schon den Artikel in der Zeitung: Spaziergänger wurden von Eichhörnchen angegriffen. Das Forstamt empfiehlt Waldspaziergängern, Luftgewehre mitzunehmen mit der Bitte: ‚Knallen Sie alle Eichhörnchen ab, die Ihnen vor die Flinte kommen.‘

      „Sehr witzig“, sagte Phil. „Kommt, lasst uns endlich zur Straße gehen und diesen seltsamen Wald hinter uns bringen.“

      Eine Art Findling, so groß wie ein Koffer, lag neben dem Weg, der in die Autostraße mündete.

      Während die Kinder noch dastanden, hörten sie Bremsen quietschen und sahen, dass ein Auto hielt. Es war ein alter Mercedes, der schon bessere Tage erlebt hatte. Dort, wo der Auspuff saß, qualmte weißer Rauch nach oben. Hinter dem Steuer saß ein Mann, der nicht gerade Vertrauen erweckend aussah, denn er hatte einen wilden Vollbart, der bis auf die Brust reichte, eine lange Narbe zog sich über die Stirn, und seine Augen sahen für die Kinder irgendwie stechend aus. Die Seitenfenster waren heruntergekurbelt.

      „Na?“ Seine Stimme klang laut und unangenehm, und Phil sah, dass im offenen Handschuhfach ein Revolver lag.

      „Wo wollt ihr denn hin?“

      „Wir machen gerade einen … einen Spaziergang und wollen zur nächsten Ortschaft“, antwortete Gina.

      „Aha“, brummte der Bärtige. „Und wo kommt ihr her?“

      „Na, aus dem Wald da hinten“, sagte Gina und ihre Stimme zitterte ein wenig.

      Der Bärtige trommelte nervös auf dem Steuerrad herum und blickte schnell hin und her.

      „Los, steigt ein!“, befahl er. „Ich fahre euch zur nächsten Stadt.“

      Die drei zögerten.

      „Steigt ein, hab ich gesagt“, brüllte der Mann und griff nach dem Revolver. „Wenn ihr nicht sofort einsteigt, knall ich euch alle nieder!“ Das kürzte die Entscheidungsfindung erheblich ab.

      Alle drängten sich nach hinten.

      „Die Rothaarige soll nach vorne.“ Der Mann fuchtelte mit seiner Waffe herum, und Gina ließ sich zitternd auf dem Beifahrersitz nieder.

      Er drehte an einem Knopf und fuhr langsam weiter.

      „Manche Leute muss man zu ihrem Glück zwingen“, brummte er in seinen Bart. „Möchte bloß wissen, wo ihr herkommt, sonst wüsstet ihr, dass die Gänseblümchen wieder gefährlich werden, gerade jetzt um diese Zeit. Hier!“, er zeigte mit dem Revolver zu der Wiese hin, die neben der Straße lag. „Alles voll davon. Verdammte Killerblumen!“ Er schoss während der Fahrt in die Wiese und zog seine Hand wieder zurück.

      „Das hätte schlimm enden können für euch, wenn ihr über die Wiesen gegangen wärt mit euren schmalen Schuhen. Seid froh, dass der alte Hieronymus euch gerettet hat. Natürlich hätte ich euch nicht wirklich erschossen.“

      „Wie … wieso sind denn Gänseblümchen gefährlich?“, fragte Gina vorsichtig.

      Hieronymus antwortete nicht, sondern streckte den Arm aus und winkte. Hinter ihnen quietschten Bremsen, und ein Ford zog links an ihnen vorbei. Gerade noch rechtzeitig vor dem Gegenverkehr.

      „Hab ihn vorgelassen“, sagte Hieronymus. „Die Leute haben keinen Respekt mehr vor Langsamfahrern. Werden immer waghalsiger. Kein Gefühl mehr für Gefahr.“ Dann blickte er die Kinder an.

      „Und was soll die blöde Frage, warum Gänseblümchen gefährlich sein sollen?“

      Er seufzte und beantwortete seine Frage selber: „Seid wahrscheinlich aus einer netteren Gegend als hier, vielleicht hat die Veränderung noch nicht überall so tief eingegriffen.“ Er drückte wieder auf einen Knopf. Der Wagen wurde etwas schneller.

      Bäume säumten die Straße. Dann tauchte das Ortsschild auf.


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