Mit den Normannen nach England. Uwe Westfehling
tief ins europäische Binnenland und sogar bis nach Nordafrika und in den Orient erstreckt. Zu einem wichtigen Zentrum für den Ostseebereich wird Haithabu, eine große Ansiedlung, die unweit der heutigen Stadt Schleswig liegt und heute in Umrissen rekonstruiert ist.
Für ihre Raubfahrten nehmen die Wikinger besonders gerne die Küsten der britischen Inseln zum Ziel, aber sie wenden sich beispielsweise auch gegen das Frankenreich. Auch lassen sie es bald nicht mehr bei kurzfristigen Vorstößen bewenden, sondern es kommt zu großangelegten Raubzügen, auf denen wohl auch keine regelmäßige Rückkehr mehr vorgesehen ist. Durchaus nicht nur einzelne Klöster oder kleine Dörfer fallen ihrem Wüten zum Opfer. Selbst größere Städte mit starken Befestigungen dürfen sich keineswegs sicher fühlen. So belagern und brandschatzen sie Köln und greifen Paris an. Und bald ist eine weitere Entwicklung zu erkennen: Im Laufe der Zeit gründen die Wikinger eigene Ansiedlungen, die sowohl Ausgangsbasis für weitere Kriegsfahrten sind als auch Zentren für Handelsinitiativen und schließlich sogar Stützpunkte für eine ausgreifende Beherrschung ganzer Landstriche. Solche Niederlassungen entstehen beispielsweise in York und in Dublin. Damit formiert sich eine Grundlage für das Streben nach noch weiter gehenden Eroberungen. Und manche Eigenschaften, die man den Nordmännern versuchsweise zuordnen kann, unterstützen ihre Unternehmungslust. Dazu gehören wohl ebenso ihre körperliche Stärke wie eine große Zielstrebigkeit und ein gewisser Erfindungsreichtum im Vorgehen. Der Kampf „liegt ihnen“ und ihrer Besitzgier entspricht eine ziemlich rücksichtslose Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Hinzu kommt offenbar eine tief verwurzelte Unruhe, die sich in einer Art rastlosem Wandertrieb ausdrückt. Manches an solchen Vorstellungen mag Klischeebild sein, aber die Bedrohung ist eine Tatsache: Den Zeitgenossen, die dem Zugriff der wilden Gesellen ausgesetzt waren, müssen sie als Abgesandte der Hölle erschienen sein.
Schiffe, Waffen, Ausrüstung
Das wichtigste Instrument für die spektakulären Erfolge der Wikinger sind ihre Schiffe: schnell, wendig und widerstandsfähig, wenn auch nicht sehr groß und bei ungünstiger Witterung wenig komfortabel für ihre Besatzung. Sie gelten heute noch als ein Höhepunkt in der Geschichte des Schiffbaus (Abb. 3). Ihre Grundform ist lang, schlank und lach sowie an beiden Enden schnittig zulaufend und mit hohem Steven versehen. Der Rumpf ist in Klinkerbauweise konstruiert, d. h. so, dass sich die einzelnen Planken überlappen und mit eisernen Bolzen zusammengefügt sind. Es gibt einen Mast, der in einer festen Bettung (Mastblock) verankert ist. Sie können sowohl mit Rudern als auch mit einem Rah-Segel bewegt werden. Auf Kriegs- und Raubfahrten tragen die Schiffsenden geschnitzte Drachenköpfe. Grundsätzlich besteht allerdings kein großer Unterschied zwischen Kampf- und Handelsschiffen und manches „Langschiff “ mag beiden Zwecken gedient haben. Auch die Kampfausrüstung war so beschaffen, dass sie den „Stoßtrupps“ Überlegenheit sicherte: Helme, manchmal mit bügelähnlichem Schutz für die Augen („Brillenhelm“) – die berühmten „gehörnten“ Helme sind nicht nachgewiesen und scheinen der Fantasie späterer Zeit entsprungen zu sein. Dazu kommen Langschwert oder Streitaxt und Rundschild. Als Kleidung müssen wir uns wollene Kittel, Hosen und Umhänge vorstellen. Als „Panzerung“ Lederwams und auch Kettenhemd.
Abb. 3
Seefest und schnell: Wikinger-Schiff in schematischer Darstellung.
Was die nautischen Hilfsmittel betrifft, so gibt es unterschiedliche Theorien und manche Spekulationen. Hatten die Wikinger bereits den Kompass oder eine Vorform davon? Welche Rolle spielte der sogenannte „Sonnenstein“? Diese Diskussion kann nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Jedenfalls ist es erstaunlich, welch erfolgreiche Navigation den Wikingern auf offener See und über große Entfernungen hinweg möglich gewesen ist.
Zu neuen Küsten und Ländern
Im Museum von Visby auf Gotland habe ich vor einem erstaunlichen Münzschatz gestanden, einem stattlichen „Hort“, den wohl ein erfolgreicher Wikinger vergraben hat, der nicht mehr dazu gekommen ist, ihn wieder auszugraben. So konnte der Schatz später von Archäologen gefunden werden. Darin befinden sich zahlreiche Geldstücke aus zahlreichen Ländern und einige davon sind sogar im fernen Bagdad geprägt worden. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass jemand von der Ostsee bis zum Zweistromland an Euphrat und Tigris gereist ist, aber auf jeden Fall beweist es Handelsbeziehungen, die sich bis in jene abenteuerliche Ferne erstreckten, wo Kontakt zur berühmten „Seidenstraße“ bestand.
Tatsächlich fuhren die Wikinger nicht nur weithin über See, sondern sie benutzten auch die großen Ströme Russlands und sind auf solchen Wegen bis ins Schwarze Meer gelangt. Man trifft ihre Spuren in Istanbul/Konstantinopel, wo in der grandiosen Kuppelkirche „Hagia Sophia“ eine Inschrift aus nordischen „Runen“ gezeigt wird, die in den Stein eines Gesimses eingeschnitten ist. In der Blütezeit des Reiches von Byzanz umgaben sich die Kaiser des Ostens sogar mit einer Leibwache aus wikingischen Söldnern, der sogenannten „Warägergarde“. Auch an den Löwenstatuen am Arsenal von Venedig, die sich früher im Hafen von Piräus bei Athen befunden haben, sieht man Runenzeichen. Basis für solche weitgespannten „Züge“ waren zweifellos die Niederlassungen an der Ostseeküste und weitere „Knotenpunkte“ an den großen Flüssen.
Aber die Reisen der Wikinger nach Osten werden noch übertroffen durch ihre Fahrten in die entgegengesetzte Richtung (Abb. 4). Bereits im 9. Jh. erreichen skandinavische Seefahrer Island und etwas später landen andere in Grönland, das gegen Ende des 10. Jhs. unter Erik „dem Roten“ besiedelt wird. Die alten „Sagas“ (Heldengedichte) berichten aber auch, dass kühne „Entdecker“ weiter gefahren und bis zur Ostküste Nordamerikas gelangt sind, als Erster wohl Eriks Sohn Leif („Leif Eriksson“) im Jahre 1000 oder 1001. Die Siedlungsreste in L´Anse aux Meadows (Neufundland) bieten einen augenfälligen Beweis für diese Behauptung. Schon damals, lange vor Kolumbus, gib es also für einige Zeit Kontakt von Europa bis hinüber in die Neue Welt, die mit dem Namen „Vinland“ (Land des Weins) bezeichnet wird. Später freilich sind diese Verbindungen wieder abgerissen.
Abb. 4
Abenteurer und Piraten, Händler und Eroberer: die Welt der Wikinger und Normannen.
Die Wikinger sind die unmittelbaren Vorfahren jener Völkerschaften, die im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Geschichte unter dem Namen Normannen in verschiedenen Bereichen des Abendlandes – und darüber hinaus! – so nachhaltig in den Gang der Ereignisse eingreifen und so spektakulär von sich reden machen werden.
Von der Rolle normannischer Herren im Mittelmeer und im Vorderen Orient wird noch einmal die Rede sein (S. 25 f.). Betrachten wir zuvor die erstaunliche Entwicklung, die sich in einem Gebiet anbahnt, das bis heute den Namen der „Nordmänner“ trägt. Gemeint ist selbstverständlich jene Küsten-Provinz im alten Gallien, also auf dem Boden des einstigen Römischen Imperiums und seiner „Rekonstruktion“, des karolingischen Kaiserreichs, und zwar in jenem Gebiet, das wir nach der Reichsteilung „west-fränkisch“ nennen – und das mehr oder weniger dem heutigen Frankreich entspricht.
Die Normandie – eine neue Heimat
Im Jahre des Herrn 911 geschieht an einem unscheinbaren Ort im westfränkischen Königreich, der den Namen Saint-Clair-sur-Epte trägt, etwas bei erster Betrachtung durchaus Unerwartetes: Ein Mann namens Rollo (auch Rolf oder Hrólf) schließt einen Pakt für den Frieden!
Dabei ist dieser Rollo nach allem, was wir wissen, ein äußerst kriegerischer Mann. Ein kühner und unternehmungslustiger Bursche, der in seinem bisherigen Leben kaum einem Risiko aus dem Weg gegangen ist, wahrscheinlich sogar ein rücksichtsloser Draufgänger,