Mit den Normannen nach England. Uwe Westfehling

Mit den Normannen nach England - Uwe Westfehling


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ist „Normannitas“?

      Ist all das zusammengenommen „Normannitas“? Vielleicht. Etwas Neid mag bei solcher Einschätzung auch mit im Spiel sein. Und wohl auch ein gewisses Quantum durchaus angebrachter Vorsicht …

      Aufbruch zu neuen Ufern

      Nach einigen Generationen Sesshaftigkeit auf fränkischem Boden hat sich die normannische Herrschaft im Norden Frankreichs weit genug gefestigt, dass dem Land echte Heimatgefühle entgegengebracht werden. Die Normannen haben sich akklimatisiert, obwohl es auch weiterhin sowohl zu inneren als auch zu äußeren Spannungen kommt, und sie sind so entschieden mit der Sprache und den Lebensbedingungen des Königreichs verwachsen, dass es gelegentlich heißt, sie seien „französischer als die Franzosen“.

      Dennoch lebt in manchen von ihnen immer noch etwas von der Unruhe und vom Wandertrieb früherer Zeiten. So kommt es wohl, dass einige von ihnen aufs Neue von Unternehmungslust gepackt werden und sich in der Welt umschauen, ob es nicht neue Gelegenheiten gebe – für ungeahnte Perspektiven und große Taten.

      So reit fast in derselben Zeit wie der Plan zur Eroberung Englands auch eine andere Idee, deren Kühnheit, ja Waghalsigkeit man als „typisch normannisch“ bezeichnen mag. Die Chance zu einem neuen „großen Wurf “ bietet sich im Mittelmeer: Der Süden Italiens steht unter dem Einfluss des Byzantinischen Kaiserreichs, das aus dem östlichen Teil des römischen Imperiums hervorgegangen ist; sein Zentrum in der alten Kapitale Konstantinopel („Ostrom“) hat und einen großen Teil des Mittelmeers beherrscht. Dieses Reich ist griechisch-orthodoxen Glaubens. Die große Insel Sizilien ist weitgehend in Hand der muslimischen Mauren, die sich auch auf dem Festland Italiens festgesetzt haben. Beide Mächte, Mauren und Byzantiner, bedrängen die Stellung von Rom und der Papst sowie auch die deutschen Kaiser sehen sich durch diese Gegner herausgefordert. Außerdem sind die ursprünglich germanischen und später vor allem im Norden Italiens verwurzelten Langobarden (Lombarden) auch im Süden sesshaft geworden. So ergibt sich im „Mezzogiorno“ ein unübersichtliches Mächtespiel mit wechselnden Positionen, das auch für weitere Teilnehmer günstige Aussichten bietet. Für unternehmungslustige und durchsetzungsfähige Streiter ein höchst verlockendes Betätigungsfeld!

      So kommt es, dass erst eine kleine Gruppe und bald schon eine größere Anzahl normannischer Ritter den Entschluss fasst, sich dem „Schauplatz Mittelmeer“ zuzuwenden. Besonders ist es die Adelsfamilie des Tankred von Hauteville von der Halbinsel Cotentin, die sich bei diesem Unternehmen hervortut, aber sie steht mit ihren Ambitionen keineswegs allein. Es wird sich in diesem Bereich eine für das ganze Abendland bedeutsame Entwicklung ergeben. Bestimmt wird sie von hoch aktiven normannischen Kämpfernaturen wie Robert „Guiskard“ (um 1015 – 1085) und Roger (1031 – 1101), zweien der Söhne des Tankred von Hauteville; der eine steigt zum Herzog von Apulien und Kalabrien auf, der andere erringt sogar die Herrschaft über Sizilien. So wird es zur Gründung eines normannisch-sizilianischen Königreiches kommen, das vor allem unter Roger II. (1095 – 1154) eine Zeit kultureller Blüte erlebt und wo sich eine ungewöhnliche religiös-gesellschaftliche Koexistenz von Christen, Juden und Muslimen entwickelt. Noch weiter ausgreifen wird Bohemund von Tarent (1051/52 – 1111), auch er aus dem Geschlecht derer von Hauteville, der 1096 als einer der Anführer des Ersten Kreuzzugs hervortritt und 1098 zum Fürsten von Antiochia im Vorderen Orient aufsteigt. Schließlich entsteht auf der Grundlage des normannischen Königreichs Sizilien und seiner Verbindung zum deutschen Reich die weit gespannte Herrschaft Kaiser Friedrichs II., der nicht nur durch seinen Vater Heinrich VI. von staufischer, sondern durch seine Mutter Konstanze von Sizilien auch von normannischer Abstammung ist. Aber – wie heißt es doch? – Das ist eine andere Geschichte …

       „Gute Gründe, über den Kanal zu blicken, kamen zu den natürlichen Bestrebungen kriegerischer Männer hinzu.“

      Winston S. Churchill4

      Der Blick nach England

      Im grünen Land der Normandie wird in jenen Tagen manches Mal ein blonder oder rothaariger Mann an der Küste gestanden und auf das Meer hinaus geblickt haben. Besonders vielleicht gegen Abend, wenn die Sonne sich zum Horizont neigt, der Wind vom Land her einsetzt und die Gedanken in die Weite schweiften. Noch heute kann man diesen „meergerichteten“ Blick beobachten, wenn man beispielsweise in Honleur vor der pittoresken Kulisse des alten Hafens die Haltung und die Gesichter der hier beheimateten „Männer vom Meer“ anschaut.

      Wenn damals einer Seemann oder Fischer ist, weiß er genau, dass irgendwo da drüben die englische Küste liegt, und er mag daran denken, dass seine Ahnen, die vor gar nicht so langer Zeit ein ungebunden schweifendes Räuberleben führten, gerade jenes Land immer wieder zum Ziel ihrer Fahrten genommen haben. Und da kann es gut sein, dass sich „angestammte“ Wünsche regen. Mehr als einer dieser Nachfahren mag insgeheim den alten Zeiten nachgetrauert und die eher sesshafte Lebensweise in der neuen Heimat nicht ganz so befriedigend gefunden haben.

      Gerade auch in der Führungsschicht der Normandie dürfte in jener Zeit der Gedanke an Britannien immer präsent sein. Schließlich gelangen immer wieder Nachrichten von Unruhe und Bedrängnis auf den Kontinent. Und mancher hat Verwandtschaft auf der „anderen Seite“. Dann kommt sogar ein König, der drüben seinen Thron verloren hat, und sucht Schutz und Gastrecht beim normannischen Herzog, der sein Schwager ist. Andere „Exilanten“ folgen ihm. Und man hört: Der König von Dänemark hat den englischen Thron an sich gerissen. Wikinger bedrängen aufs Neue die Küsten des Inselreichs. Und mehr als einer, vom Pferdeknecht und Knappen bis zum Ritter und zum Herzog selbst, wird gedacht haben: Wie wäre es denn, wenn auch ich dort meinen Handschuh in die Arena werfen würde?

      Vermutlich ist das einer der Gründe, weshalb Herzog Wilhelm keine großen Schwierigkeiten hat, Gefolgschaft zu finden, als er beschließt, für seinen Feldzug gegen das Inselreich eine Armee zu sammeln.

      Ehe


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