Allmächd, scho widder a Mord!. Werner Rosenzweig
abgestellt war, schwang sich, nachdem er den Dynamo eingeschaltet hatte, in den Sattel, und radelte los. Er nahm die kurze Julienstraße, um den Drahtesel kurz darauf in die Weigmannstraße zu lenken. Er fuhr Richtung Altdorfer Straße weiter und hielt auf der Brücke der Johannisstraße mitten über der Pegnitz an. Links rauschte die Strömung des Flusses, dessen Wasser über ein kleines Wehr floss. Rechts verlor sich der Wohnturm des Wenzelschlosses, der ehemaligen Kaiserresidenz, die auf einer Insel in der Pegnitz erbaut wurde, in der Dunkelheit. Der junge Mann stieg vom Fahrrad ab, nahm seinen Rucksack vom Rücken und sah sich um. Kein Mensch war zu sehen. Er wartete ab, bis ein Pkw, der aus der Gegenrichtung die Brücke befuhr, wieder verschwunden war. Dann nahm er den Rucksack in die Hände und schleuderte ihn in die finstere Nacht. Sekunden später war ein schwaches Aufklatschen zu hören, welches vom Fließgeräusch des Flusses nahezu übertönt wurde. Der junge Mann wendete sein Fahrrad und verschwand strampelnd in der Siebenkeesstraße. Wenig später stand er wieder an der S-Bahnstation und wartete auf den nächsten Zug, zurück in Richtung Nürnberg.
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Zu dem Zeitpunkt als der Rucksack in den Fluten der Pegnitz verschwand, befand sich Nachtgiger drei, der führende Einsatzwagen, auf der B14, in der Höhe von Wetzendorf. In Großgründlach starrte Kommissar Nero Hammer gebannt auf den Bildschirm und beobachtete mit Schrecken wie das kleine, rot blinkende Signal eine Zeit lang auf der Pegnitz dahin schwamm, nach wenigen Minuten seinen Geist aufgab und für immer erlosch. War Gerd Gierbich verrückt geworden? Warum war er in die Pegnitz gesprungen? Irgendetwas stimmte nicht. „Nachtgiger eins bis Nachtgiger vier, fahren Sie zur Brücke Johannisstraße und umstellen Sie die Brücke weiträumig. Kontrollieren Sie jede Person, die Sie treffen.“
„Wie weiträumig, Chef?“, wollte Nachtgiger zwei wissen.
Am Bahnhof, links der Pegnitz, fuhr eine S-Bahn der Linie 1 aus Richtung Hersbruck kommend ein. „Lauf, links der Pegnitz, Lauf links der Pegnitz“, verkündete eine Lautsprecherdurchsage, „bitte einsteigen, die Türen schließen automatisch.“ Die Bremsen lösten sich, und der rote, dreiteilige Zug fuhr an. Drinnen im Wagon blickte ein junger Mann mit Nikolausmütze hinaus in die finstere Nacht.
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Gerd Gierbich wurde langsam nervös. Vor fünfundvierzig Minuten hatte sich der Entführer das letzte Mal gemeldet. Vor ihm, auf dem Hauptmarkt tobte das Leben. Die rot-weiß gestreiften Zeltdächer der circa einhundertdreißig Weihnachtsbuden ragten dicht an dicht gedrängt in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Alles war festlich beleuchtet. Abertausende Besucher des Nürnberger Christkindlesmarktes drängten und wälzten sich durch die engen Budenstraßen. Viele hielten Glühweintassen oder Brötchen mit Nürnberger Rostbratwürsten in den Händen. Die Fassade der Frauenkirche, auf deren Balkon das Nürnberger Christkind mit seinem Prolog jährlich den Markt eröffnete, erstrahlte im festlichen Glanz. Vom Markt rief ein Verkäufer von Zwetschgenmännla im tiefsten Nürnberger Dialekt:
Willsd an, der di ned ärchern koo,
nou kaffsder hald an Zwedschgermoo.
A Zwedschgerfraa däi schaffsder oh,
wall däi dich niemals ärchern kou.
Gerd Gierbich war durch das bunte Treiben dermaßen abgelenkt, dass er die eingehende SMS fast nicht bemerkt hätte:
Gehen Sie nun zum Albrecht-Dürer-Platz. Hinter dem Albrecht-Dürer-Denkmal befindet sich ein unscheinbarer Treppenabgang, der durch eine Eisentür verschlossen ist. Warten Sie vor der Tür. Sobald das Geld übergeben und gezählt ist, erhalten Sie Ihren Sohn zurück.
Nachtgiger
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Nero Hammer spie Gift und Galle. Der oder die Entführer hatten ihn wie einen Amateur ausgetrickst. Seine Leute in Lauf hatten eine fünfundachtzigjährige Oma festgehalten, welche ihren Zwergpinscher Gassi führte und in einer Aldi-Plastiktüte ihr Strickzeug mit sich führte. Sie hatte ihre neunzigjährige Freundin besucht und war auf dem Nachhauseweg. „A alde Fraa ieberfalln, dees kennder, iehr nichdsnudzige Baggaasch. Iech hab ka Lösegeld ned. Wie ofd solli eich dees nu soogn.“ Dann hieb sie mit ihrer Plastiktüte auf einen Polizisten von Nachtgiger drei ein und fegte ihm seine Dienstmütze vom Kopf. Die Kopfbedeckung des Beamten nahm denselben Weg wie eine halbe Stunde vorher der ins Wasser geworfene Rucksack. Der betroffene Polizist sah verstört von der Brücke auf den Fluss und musste zusehen, wie etwas Rundes, Weißes schaukelnd in Richtung Nürnberg davongetragen wurde. „Iech bin selber arm wie a Kergnmaus“, geiferte die Alte weiter und holte erneut mit ihrer Tüte aus.
„Das ist Gewaltanwendung gegen Polizeibeamte im Dienst“, monierte der Beamte ohne Kopfbedeckung.
„Geh na her Berschla“, erhielt er zur Antwort, „dann griegsd gleich nu ane auf dei Goschn. Baggnern Hektor“, wies die Aldi-Tüten-Besitzerin ihren vierbeinigen Mikrosaurier an und deutete auf den Polizisten. Der Zwergpinscher sah den Hüter des Gesetzes mit gefletschten Zähnen an, stürzte sich todesmutig auf dessen rechtes Bein und verbiss sich im Stoff der Hose. Verzweifelt versuchte der Mann von Nachtgiger drei den Kläffer von seinem Hosenbein los zu bekommen. In diesem Moment der Unachtsamkeit griff die Alte in ihre Handtasche, holte eine Sprühdose heraus und verabreichte dem Beamten eine volle Ladung Pfefferspray ins Gesicht. Der Polizist schrie auf, hielt sich mit beiden Händen die schmerzenden Augen, der Hund zerrte unnachgiebig am Stoff der Hose, bis er einen großen Fetzen im Maul hatte, und die alte Dame landete eine Serie Aldi-Tüten-Schläge auf dem Kopf des Stöhnenden. „Wenn mi scho kaner vergewaldichd“, stellte sie sachlich fest, „dann habbi dees Bfefferschbräi wenigsdens ned umsunsd kaffd.“
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Gerd Gierbich stand im Treppenabgang vor der verschlossenen Eisentür, als das Telefon erneut vibrierte.
Legen Sie das Telefon in die Aldi-Tüte und stellen Sie diese vor der Türe ab. Verschwinden Sie. Sie haben Ihre Aufgabe erfüllt. Nun kommt es nur noch darauf an, dass Sie sich streng an die Anweisungen gehalten haben und die Banknoten keine Blüten oder Papierschnipsel sind. Wenn alles okay ist, kriegen Sie morgen Ihren Jungen zurück.
Nachtgiger
Gerd Gierbich sah sich um. Der entscheidende Moment war gekommen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Dann legte er das Mobiltelefon in die Tüte und stellte diese bedachtsam neben die schwere Eisentüre. Was, wenn ein Unbeteiligter das Geld fand und an sich nahm? Er zwang sich, die wenigen Stufen nach oben zu schreiten und die vier Millionen Euro allein zurückzulassen. Oben angekommen hörte er, wie sich ein Schlüssel knarzend im Schloss drehte und die schwere Tür in ihren Angeln quietschte. Er sah sich um und erschrak. Eine grässliche Fratze sah ihn an. Am auffälligsten war der große, rote Hakenschnabel, der zwischen zwei tellerrunden Augen hervorragte. Auf dem Kopf schwappten lange, goldfarbene Federn hin und her. Selbst der Körper der Gestalt war über und über gefiedert. Zwei Sekunden lang starrten sich die beiden in die Augen, dann griff die Nachtgiger-Gestalt blitzschnell nach der Aldi-Tüte, zog sie nach innen und schlug die Tür zu. Augenblicklich drehte sich der Schlüssel wieder im Schloss.
Der Nachtgiger hinter der Tür stieg über moderne Betonschächte in die Tiefe. Dann rannte er einen langen, niederen Gang entlang, der aus dem Gestein gemeißelt war. Schließlich gelangte er in ein Gewölbe, von dem aus mehrere Schächte in verschiedene Richtungen führten.
Weit vom Burgberg entfernt, im Südosten der Stadt und nordwestlich des Volksparks Dutzendteich, erstreckt sich der einhundertvierunddreißig Hektar große Luitpoldhain. An seinem nördlichen Rand steht die bekannte Meistersingerhalle. Unter tief hängenden Ästen einer Weide stand, vorzüglich versteckt, ein schwarzer VW Golf. Der Fahrer war ausgestiegen und inhalierte unter vorgehaltener Hand den Rauch einer Marlboro Light. Er war frühzeitig zum Treffpunkt gekommen. Der andere, eine grässliche Gestalt, würde noch etwas brauchen, bis er eintraf. Er hatte noch ein schönes Stück Weg vor sich. Doch das machte dem Raucher nichts aus. Er hatte Zeit. Hauptsache der Nachtgiger hatte die wunderschöne, prall gefüllte Aldi-Tüte dabei.
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Das alte, verwahrloste Haus in Rehhof lag einsam und verlassen