Das schöne Fräulein Li. Peter Brock

Das schöne Fräulein Li - Peter Brock


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Sie die Polizei rufen! Sofort!», rät ihm eine ältere Frau.

      «Ach was, wer sich hier rumtreibt, ist selber schuld», sagt ein Handwerker, der seine Werkzeugtasche vorsichtshalber mit beiden Armen fest umschlossen hält.

      Kappe nickt nur.

      Und die Chinesen? Die lachen einfach. Auch die älteren. Kappe stimmt in dieses Knabenchorlachen als Bass mit ein.

      Bloß jetzt den Dienstausweis nicht zücken, denkt er. Er versucht es lieber mit einem Scherz und meint, auch der Regen sei schon mal sauberer gewesen. Dann bahnt er sich einen Weg durch die Schaulustigen.

      Die chinesische Stifterin all dieses Unheils schaut Kappe hinterher.

      Beim Zurückblicken sieht er, dass sie ihm zuwinkt wie ein kleines Mädchen.

      Als Kappe seinen Slalom um spielende Kinder, Bettler, Fahrräder, stehengelassene Ascheimer und Holzkisten mit chinesischen Schriftzeichen fortsetzt, muss er sich eingestehen, dass er eigentlich gar nicht weiß, wo er hinwill.

      «Willste mitkommen?», wird er von einem Mädchen gefragt, das seine Tochter sein könnte. «Ick mach et uns jemütlich.»

      Kappe schüttelt nur den Kopf. Eigentlich hätte er seinen Ausweis ziehen und sie fragen müssen, wie alt sie sei, wie ihr Lude heißt und in welcher Kalenderwoche des Vorjahres sie sich das letzte Mal gewaschen habe. Aber er lässt es. Vielleicht ist es wieder diese nie so ganz zweifelsfrei diagnostizierte Stoffwechselkrankheit, die ihn seit seiner Jugend plagt und die ihm ab und an eine Extraportion bleierne Müdigkeit beschert. Aber da sieht er auch schon das rettende Schild an der Ecke Kraut- und Lange Straße: Schultheiss. Jetzt ein Bier. Es ist zwar nicht erlaubt im Dienst, und es wird seine Müdigkeit sogar noch verschlimmern, aber der hopfigherbe Geschmack auf der Zunge hat ihm schon oft beim Nachdenken über knifflige Fälle geholfen. Und nachdenken, das muss er nun wahrlich.

      Denn klar ist bislang nur, dass der Tote allem Anschein nach als Händler arbeitete und wie viele seiner Landsleute von Tür zu Tür ging, um Specksteinschnitzereien, Porzellanvasen oder Lackschächtelchen zu verkaufen. Ein paar geschnitzte Drachen, die man als Staubfänger auf die Kommode stellen kann, sowie einen nicht unbeträchtlichen Geldbetrag fand man in den Manteltaschen des Toten. Aber einen Ausweis hatte er nicht bei sich. Oder wurde er ihm gestohlen? Aber warum sollte der Räuber dann das Geld zurücklassen?

      Kappe steuert weiter auf die Kneipe zu. Er geht so zielstrebig über die Kreuzung, dass er fast von einem abbiegenden NAG-Sportwagen C4b über den Haufen gefahren wird. Kappe kann gerade noch rechtzeitig einen Sprung zurück machen.

      Der am Steuer in dem offenen Wagen sitzende Chinese hupt und schreit.

      Kappe versteht kein Wort. In Gedanken ist er bei dem Autotyp, einem NAG, einem bordeauxroten, gebaut von der Neuen Automobil-Gesellschaft in Oberschöneweide, der Fabrik, die von dem Manne gegründet wurde, dessen Sohn, Walther Rathenau, vor wenigen Tagen erst zum deutschen Außenminister ernannt worden war. Und ein derartiges Auto wird gefahren von einem Chinesen! Was für eine verkehrte Welt! Dieser Geruch! Der ist es. Kappe braucht einen Moment, um zu merken, was an dieser Kneipe anders ist.

      Gut, da sitzen zwei Dutzend Chinesen im Gastraum und nur fünf, sechs Deutsche. Aber sonst? Alles wie immer und überall: blankgescheuerte Holztische, ungepolsterte Stühle, deren Schrammen davon zeugen, dass sie schon manchen Flug durchs Lokal überlebt haben, und hinterm Tresen ein Wirt des Typs «Eckkneipe»: unschätzbares Alter zwischen vierzig und sechzig, Bierbauch, Blick eines gutmütigen Dackels, der genau weiß, wo der Hase lang läuft, Lederschürze überm altersgrauen weißen Hemd, aus dessen zu weit geöffnetem Kragen gelbliches Feinripp und graue Brusthaare lugen, die Ärmel hochgekrempelt, die Hände im Spülwasser, der Blick bei den Gästen.

      Klar, so jemand sieht einem wie Kappe sofort an, dass er nicht aus freien Stücken hier ist, um sich mal billig einen auf die Lampe zu gießen. Außerdem weiß der Wirt längst, obwohl es noch in keiner Zeitung hat stehen können, dass einer seiner Gäste tot ist. Deshalb überlegt er bei Kappes Anblick gar nicht erst, ob es sich bei ihm um eine Amtsperson handelt, die zwecks Kontrolle von Küche und Toilette vorbeikommt, oder um einen Polizisten, der illegal hier lebende Chinesen oder solche ohne Genehmigung zum Haustürverkauf sucht. Der Wirt weiß gleich, der kann nur wegen des Mordes da sein.

      Kappe steht derweil noch staunend vor den mit chinesischen Schriftzeichen versehenen Blättern, die an die holzvertäfelten Wände geheftet sind.

      «Tach! Det sind Bekanntmachungen des Konsulats für unsre China-Männer», sagt der Wirt, der hinter Kappe getreten ist.

      «Schön! Und ich bin Kappe, Hermann Kappe.»

      «Und Sie kommen von der Polizei wegen des Toten.»

      Kappe ist solch eine Direktheit nicht unangenehm. Gern lässt er sich vom Wirt auf ein Bier einladen und stellt sich zu ihm an den Tresen.

      Von den Chinesen achten nur wenige auf ihn. Nichts zeugt von Unruhe, Ängstlichkeit oder schlechtem Gewissen, registriert Kappe enttäuscht. Die meisten haben irgendwelche Dominosteine vor sich aufgebaut, sitzen zu je vier Mann am Tisch und spielen.

      Dass es sich dabei um Mahjong handelt, bekommt Kappe vom Wirt erklärt. Ein Spiel, das man freilich auch mit Karten spielen könnte, aber Schiffer auf dem Jangtse haben es erfunden, und damit die Karten nicht ins Wasser geweht wurden, nutzten sie Steine zum Spielen. Er erklärt ihm auch, dass der Getötete Herr Keung geheißen habe, noch bevor Kappe danach fragt. Er sagt ihm zudem, dass er den Vornamen nicht kenne, weil sich die Chinesen ohnehin kaum mit Vornamen anreden würden. Keung jedenfalls bedeute Kraft, das sei ihm gesagt worden, und kräftig sei der Tote ja tatsächlich gewesen. «Der hat für den Wong geschuftet, diesen Schuft!», fährt der Wirt fort, und ohne auf eine Nachfrage zu warten, fügt er hinzu: «Des is een übler Jeselle, kann ick Ihnen sagen. Der führt een härteres Rejiment als der Li, und ganz koscher is der ooch nich.»

      Manchmal, denkt Kappe, genügt die Zeit, die man für zwei Schluck Bier braucht, und schon erhellt sich die mondlose Finsternis, die am Anfang jeden Mord umgibt. Beim zweiten Bier weiß er bereits, dass es sozusagen zwei Chefs der chinesischen Händler gibt oder vielleicht auch zwei Paten: Wong und Li.

      Während Wong noch ganz in der Nähe seines Lagers in der Krautstraße wohnt und erst vor zwei Jahren den Großhandel für die an Haustüren feilgebotenen Waren von einem Onkel übernahm, hat sich Li, der mit seiner Familie schon 1908 aus der südchinesischen Küstenprovinz Zhejiang mit der Transsibirischen Eisenbahn über Moskau nach Berlin kam, längst im Handel mit Lackwaren, Porzellan und Steinschnitzereien etabliert, und zwar so gut, dass er nur noch sein Lager im gelben Viertel hat. Er selbst, der Chef, lebt mit seiner Familie dort, wo auch Klara gerne mit Kappe hinziehen würde: in der Kantstraße in Charlottenburg.

      Als der Wirt unaufgefordert das dritte Bier hinstellt, überlegt Kappe kurz, bevor er trinkt, dann aber setzt er an zu einem so großen Schluck, dass er durch das sich schnell leerende Pilsglas hindurch leicht verzerrt sieht, wie sich eine Tür zum Nebenraum öffnet, der Geruch, den er noch immer nicht bestimmen kann, intensiver wird und ein Chinese mit einem vollen Tablett in den Gastraum trippelt. Kappe beobachtet, wie er behende Schüsselchen und Schälchen auf den Tischen verteilt. Unter dem heißen Dampf, so erkennt Kappe, ist die Hälfte der Schüsseln mit Reis gefüllt, die übrigen mit einem undefinierbaren, gulaschähnlichen, rostbraunen Etwas.

      Früher wurde er von seinem Vater immer gerügt, wenn er heiße Suppe schlürfte, beim Essen schmatzte oder gar, was dann postwendend mit einer Ohrfeige quittiert wurde, am Tisch rülpste. Hier hätte sein Vater, der Fischer, sämtliche Kollegen mitbringen können, und alle wären damit beschäftigt gewesen, reihum die Gäste zu bestrafen.

      Kappe schaut interessiert von einem zum anderen der sich mit Stäbchen den Reis und das Soßenfleischgemisch in den Mund schaufelnden Gäste, als wäre er mit Margarete und Hartmut im Zoo bei der Raubtierfütterung.

      «Det Essen machen die schon selba, die ham von mir ’n Nebenzimmer bekommen, und was die da machen, is nich mein Bier, die zahlen ja ooch dafür», erklärt der Wirt.

      Tatsächlich, am Ursprungsort des Geruches, den der Wirt dem neugierigen Kappe nun


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