Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs

Blind am Rande des Abgrundes - Fritz Krebs


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auch den von ihm angebotenen Kaffee selbst. Er war ein rühriger liebenswürdiger Mann. Seine Frau beeindruckte mich wegen ihres alemannischen Dialektes. Sie hatten einen Sohn, der zwei Jahre älter war als ich, weshalb ich öfter zu ihm eingeladen wurde. Gottfried wuchs in einem wirtschaftlich gut gesicherten Hause auf. Sein Spielzeug war vom solidesten und teuersten. Wenngleich ich den Unterschied zu meiner eigenen häuslichen Umgebung wohl fühlen mochte, so war ich doch fest davon überzeugt, dass es mir am allerbesten ging. Diese meine ersten Jahre waren durchaus ein guter Anfang für mich. Ich wurde von vielen Menschen verwöhnt und von meinen Verwandten sehr nachsichtig behandelt. Besonders meine Großmutter konnte mir nie einen Wunsch abschlagen. Gemessen an den Kinderwünschen der heutigen Zeit waren meine Wünsche allerdings recht bescheiden. So brachte mich im Sommer der Eismann mit seiner Handglocke in Bewegung. Ein Fünfpfennigstück war bei Großmutter immer drin, trotz ihrer sehr kleinen Rente. Ihre besondere Nachsicht mir gegenüber hatte bei Großmutter einen besonderen Grund, den ich erst viel später erfahren sollte. Als sie nämlich ihren einzigen Sohn durch den Krieg verloren hatte, da verfiel sie in eine schwere Gemütserkrankung und interessierte sich nicht mehr für ihre Umwelt. Dieser Zustand besserte sich erst seit meiner Geburt nach und nach. Das führte bei den Mitgliedern der Familie zu der Ansicht, dass die Geburt ihres ersten Enkels den Beginn ihrer Genesung ausgelöst habe. Dazu mag auch mitgeholfen haben, dass man mir den Vornamen „Fritz“ gegeben hat. So hieß jener Onkel, den ich nicht mehr kennenlernen konnte. Ich war in eine Umwelt hineinversetzt, die sich wohl für die Erwachsenen in einem recht betrüblichen Zustand befand, jedoch für ein Kind in ausreichendem Maße Geborgenheit bereithielt. Deutschland litt an den Folgen des größten Massengemetzels, das die Menschen bis dahin je erfunden und nicht ohne Grund als „Weltkrieg“ bezeichnet hatten. Die einfachen Menschen in diesem Land befassten sich mit den lebensnotwendigen Dingen und versuchten, ihre eigene kleine Welt in Ordnung zu halten. Ich habe es immer als einen besonderen Glücksumstand angesehen, dass ich als Vogtländer geboren wurde. Die Menschen in meiner Umgebung waren ziemlich anspruchslos gegenüber den materiellen Dingen aber in ihrer Nähe entwickelte sich ein Empfinden von Wärme und Geborgenheit wie ich es andernorts und später nur selten erlebt habe.

      Im Hause meiner Großeltern gab es zwei Haustiere, einen Hund von der Rasse der Pekinesen und eine schwarze Katze. Sie unterschieden sich für mich vor allem darin, dass sich der Hund streicheln ließ so lange ich das wollte, die Katze dagegen bestimmte selbst wann ihr das zusagte. Trotzdem hatte gerade sie ein ganz besonderes Verhältnis zu mir. Man sagte mir, sie habe sich zum Bewacher meines Babyschlafes aufgeschwungen und jeden Fremden angefaucht, der meinem Korbwagen zu nahe gekommen ist. Leider habe ich sie später durch meine Derbheit ungewollt so vergrault, dass sie sich hinfort nur noch in Gegenwart Erwachsener von mir anfassen lassen wollte. Trotzdem habe ich Katzen immer eine große Zuneigung entgegengebracht. Man sagt der Katze Charakter nach, weil man ihr nichts befehlen kann. Vielleicht wäre es für mich gut gewesen, wenn ich die Reaktion unserer damaligen Hauskatze schon so hätte verstehen können. Eine solche Lehre hinsichtlich des „Befehls von oben“ fand leider bei mir wie bei den meisten anderen Deutschen erst nach den schlimmen Erlebnissen im zweiten Weltkrieg den geeigneten Nährboden.

      Als meine Eltern in Altenburg ihren eigenen Hausstand gründen konnten, war das für sie bestimmt ein Anlass zur Freude, hatten sie doch gemeinsam ein erstes wichtiges Ziel erreicht.

      Das Schmiedehaus meiner Großeltern; Am Mühlberg 1 in Auerbach/Vogtl Bei mir löste die Ankündigung des bevorstehenden Wegganges der Familie aus Auerbach einen inneren Widerstand gegen das neue Zuhause aus, der noch Jahre anhalten sollte.

      Als Zweijähriger musste ich mich dennoch in die beschlossene Zusammenführung der Familie an einem anderen Ort fügen. Ich hatte mich allerdings schon zu sehr an die Menschen in meinem Geburtshause gewöhnt, als dass ich die Rechte und Pflichten meines Vaters hinsichtlich meiner Erziehung nun ohne weiteres hätte akzeptieren wollen. Ihn kannte ich bis dahin nur von seinen Wochenendbesuchen und mag dabei schnell gemerkt haben, dass er etwas strenger mit mir verfuhr als die anderen Erwachsenen. Er stammte nicht allein aus Preußen, er war auch Preuße hinsichtlich seiner Vorstellungen von Ordnung, Disziplin und Gehorsam. In meinem Gemüt aber war wohl schon die Saat sächsischer Gemütlichkeit aufgegangen, was unausweichlich einen ernsten Interessengegensatz zwischen Vater und Sohn heraufbeschwören sollte. Ich kleiner Sachse musste dabei der Unterlegene bleiben, wenngleich ich wohl merkte, dass die Sympathien meiner sächsischen Verwandten auf meiner Seite waren. So ging es im Kleinen ebenso wie schon einmal in der großen Politik. Die preußische Disziplin besiegte die sächsische „Gemütlichkeit“. Ich verlor mit einem Male eine vertraute Umgebung und wurde vorerst einmal von den Menschen getrennt, mit denen ich bislang zu tun gehabt hatte. Vermutlich hat mein Vater lange Zeit sehr darum gekämpft, dass aus mir kein verzogenes Bürschchen wurde aber solche Überlegungen sind einem Kind nicht plausibel zu machen. In Altenburg war ich erst einmal ein Fremder. Ich erinnere mich noch deutlich an den ungewohnten Duft von frischem Holz und neuer Farbe in der neueingerichteten Wohnung. Unter den Kindern der Nachbarschaft wirkte ich selbst wie ein Exot denn sie hatten einen ganz anderen Dialekt und amüsierten sich über mein vogtländisches Deutsch. Ich war wie aus dem Nest gefallen und sehr traurig. Die Eingewöhnung wurde mir glücklicherweise dadurch sehr erleichtert, dass man mich noch häufig und über Wochen hinweg nach Auerbach schickte, so dass mir bei jeder Rückkehr nach Altenburg die Hoffnung auf ein früheres oder späteres Wiedersehen mit Auerbach erhalten bleiben konnte. Allmählich lernte ich auch den Dialekt der Altenburger Kinder sprechen, ich wurde gewissermaßen „zweisprachig“, womit das Heimischwerden langsam Fortschritte machte.

      Ich war drei Jahre alt und befand mich gerade wieder einmal im Hause meiner Großeltern, als ganz plötzlich mein Großvater verstarb. In der Erinnerung an dieses für meine Großmutter und die beiden Tanten folgenschwere Ereignis sehe ich noch deutlich vor mir, wie der Großvater in einem offenen Sarg unter Blumen auf den Amboss Steinen seiner Schmiede aufgebahrt lag. Das war das Ende der alten Schmiede, in die kein neuer Meister mehr einziehen wollte. Das alte Schmiedehaus blieb noch lange Jahre hindurch von den drei zurückbleibenden Frauen bewohnt und konnte somit der beliebteste Ferienaufenthalt meiner Kinder- und Jugendzeit werden.

      Altenburg, die ehemals herzoglich-sächsische Residenzstadt, gehörte in der Weimarer Republik zum Land Thüringen und bildete das Zentrum des östlichsten der Thüringer Kreisgebiete. Am Rande der Leipziger Tieflandbucht gelegen ließ hier der fruchtbare Ackerboden gute Ernten und reiche Bauern gedeihen. Die Stadt selbst war ein kulturelles Kleinod, was wesentlich der Hinterlassenschaft ihrer einstigen fürstlichen Herrscher zu verdanken war. So besaß Altenburg ein sehr bekanntes Theater, verschiedene Museen und zahlreiche wertvolle Architekturdenkmäler, darunter viele Kirchen und mittelalterliche Türme. Die Stadt hatte unter ihren zahlreichen Schulen auch drei sogenannte höhere Schulen und mehrere Fachschulen. Das rege kulturelle Leben in dieser Stadt berührte mich zunächst noch nicht. Die Schönheit Altenburgs mit seinem auf einem Porphyr Felsen weiträumig angelegten Schloss und den winkligen mittelalterlichen Gassen sollte ich erst nach und nach kennenlernen. Wir wohnten nämlich im nördlichen Vorort Kauerndorf, der sich direkt an das Bahnhofsgelände anschloss. Er leitet in die der Stadt vorgelagerten Randbereiche der hier beginnenden Leipziger Tieflandbucht über. In unserer Straße gab es viele Kinder. So fand ich nach und nach auch genügend Spielgefährten meiner Altersgruppe. Das Milieu war hier kleinbürgerlich mit einem starken Anteil aus der Arbeiterschaft. Auch hier war das Leben der Menschen von der allgemein schwierigen Wirtschaftslage geprägt. Das konnte ich aus meiner damaligen Perspektive zwar noch nicht beurteilen, doch selbst Vorschulkinder wussten seinerzeit, dass es unter ihren Vätern solche gab, die keine Arbeit hatten. Die anderen Väter waren in einer der renommierten Nähmaschinenfabriken, der weltbekannten Spielkartenfabrik oder in einer ebenfalls nicht unbekannten Hutfabrik beschäftigt.

      Andere arbeiteten auch in den Betrieben der Braunkohlenindustrie, die sich in der Umgebung nördlich und westlich der Stadt befanden. Arbeit gab es für die damals 45 Tausend Einwohner Altenburgs auch noch bei Post und Bahn, im Druckereiwesen, in der Zigarrenfabrik oder in einer der hier ansässigen Maschinenfabriken beziehungsweise in der Brauerei. Unser Haus lag in einer Straße, die parallel zum Bahngelände lief.

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