Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs

Blind am Rande des Abgrundes - Fritz Krebs


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Schüler so sehr beeindruckt, dass ich noch auf dem Heimweg wie aufgezogen herumzappelte. Dabei ging ein Erinnerungsstück an meinen Auerbacher Großvater zu Bruch, das meine Eltern als Requisite für den Auftritt des Hirschhornkäfers zur Verfügung gestellt hatten. Es war eine sehr schöne Tabakspfeife mit einem buntbemalten Porzellankopf.

       4. Dienst

      Das Jahr 1933 sollte in unserem Land alles anders werden lassen als es bislang gewesen war. Erwachsene mochten das vorausahnen oder auch nicht. Für Kinder, deren Welt sich ununterbrochen erweitert und damit auch immer neu und anders wird, war das damalige politische Geschehen jedenfalls nicht durchschaubar. Es scheint mir deshalb angebracht, von hier ab meinen Bericht gelegentlich durch Informationen zu ergänzen, wie sie die damals Erwachsenen der „Altenburger Landeszeitung“ oder einem anderen regionalen Tageblatt entnehmen konnten. Wie alle Kinder meines Alters, fand ich noch keinen Gefallen am Zeitunglesen. Das bedeutete jedoch nicht, dass wir die Ereignisse auf der großen Weltbühne nicht wahrnahmen und auf unsere Weise reflektierten. Wir waren alsbald sogar zu Mitwirkenden gemacht, ehe wir überhaupt verstanden hatten welche Tragödie in den nächsten Jahren aufgeführt werden sollte. Für mich begann das an einem sehr warmen Frühlingstag, als ich aus Neugier einen folgenreichen Entschluss fasste. An diesem Tage hatte ich mit einigen Spielgefährten lustlos an einer Stelle des Bahndammes herumgesessen, die uns zu bestimmten Zeiten als Palaverplatz diente. An diesem Stück Damm waren alte Holzschwellen senkrecht in den Boden gerammt, um ein Abrutschen des Hanges zu verhindern. Wenn wir darauf hockten und die Beine baumeln ließen, dann kamen wir manchmal auf die seltsamsten Einfälle. An diesem Tage hatten wir wohl schon eine geraume Zeit so herumgehangen, als sich uns eine Gruppe von Jungen näherte, unter denen auch einer aus unserer Straße war. Werner Quilitzsch löste sich aus dem Trupp. Er wohnte unweit von unserem Palaverplatz und kam nun zu uns heran, um uns ins Staunen zu versetzen. Das gelang ihm allein schon durch sein Äußeres. Er trug, wie auch die anderen uns aber nicht bekannten Jungen, ein weißes Hemd. Seine kurze schwarze Hose war mit einem Sportgürtel zusammengeschnürt, dessen Schnalle eine Fahne mit dem Hakenkreuz vorstellte. Solcherart Gebrauchsgegenstände wurden einige Zeit später in Deutschland verpönt und als „nationaler Kitsch“ bezeichnet. In dieser Phase des politischen Wandels war aber noch mancherlei erlaubt und möglich. Wortlos und ein wenig herausfordernd postierte sich Werner vor uns auf den Gehweg. In seiner zusammengezurrten Hose sah der ohnehin schon schlanke Kerl noch erheblich dünner aus als gewöhnlich. Natürlich konnten wir uns nicht verkneifen zu fragen, woher er denn käme. Was wir erfuhren, machte neugierig. Quilitzsch war in das Deutsche Jungvolk eingetreten und hatte gerade an einer sogenannten „Fahrt“ teilgenommen. Was es damit auf sich hatte, erklärte er uns nun, nach Jungenart froh darüber, sich mit seinen Neuigkeiten interessant machen zu können. Dabei verwendete er Begriffe, die uns nicht geläufig waren, wie zum Beispiel: Lagerfeuer, Geländespiel, Heimabend usw. Der nächste von diesen Heimabenden fände am kommenden Mittwoch statt, sagte er. Es würden dort spannende Geschichten vorgelesen und auch Lieder gesungen. Die Sache mit den Liedern hätte er sich von mir aus sparen können. Da reichte mir schon der Musikunterricht in der Schule. Die Aussicht auf eine Abenteuergeschichte war aber verlockend genug, um bei mir den Wunsch nach einem Probebesuch eines dieser Heimabende zu wecken. Ein anderer Junge, Heinz Geißler, zeigte ebenfalls Interesse. Werner Quilitzsch erbot sich, uns am kommenden Mittwoch abzuholen. Eine solche Absprache hatte für mich damals natürlich noch so lange keine Wirksamkeit, bis nicht die Erlaubnis meines Vaters dazu eingeholt war. Wie sich herausstellen sollte, war sie aber leichter zu erhalten als ich es erfahrungsgemäß hätte erwarten müssen. Ich kann heute nur Vermutungen darüber anstellen, was meinen Vater dazu bewogen haben mag, mir seine Einwilligung zu diesem Vorhaben zu geben. Vielleicht wollte er mich nur von der Straße weghaben, auf der ich oft genug herumlungerte. Möglicherweise gehörte er damals zu den Leuten, die meinten, Hitler werde im Lande nun doch vielleicht besser als seine Vorgänger die Arbeitslosigkeit bekämpfen und für mehr Sicherheit im Alltag der Menschen sorgen. Unbestritten ist jedenfalls, dass ich selbst einen der schwerwiegendsten Entschlüsse in meinem Leben an diesem schönen Frühlingstage des Jahres 1933 gefasst habe. Das geschah im Alter von acht und ein halb Jahren.

      Während der ersten Monate nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland berichtete die „Altenburger Landeszeitung“ unter anderem folgendes über die damalige politische Situation im Lande und in unserer Stadt:

      Mittwoch, 1. Februar 1933

       Gewaltige Kundgebung in Altenburg für die neue Regierung. Fackelzug von Stahlhelm und SA.

       Dienstag, 28. Februar 1933

       Das Reichstagsgebäude von Kommunisten in Brand gesteckt.

       Mittwoch, 1. März 1933

       Hilfspolizei aus SS und Stahlhelm in Altenburg. Das Ernestinum als Kaserne.

       Dienstag, 7. März 1933

       Die nationalen Fahnen auf dem Rathaus. Gestern Nachmittag wehte auf dem Rathause sowie auf dem Turm des Schlosses die Hakenkreuzfahne.

       Sonnabend, 25. März 1933

       Konzentrationslager für politische Gefangene in Dachau.

       Freitag, 7. April 1933

       Führertreffen des Jungvolks auf der Leuchtenburg … für die Führer der im Jungvolk organisierten 150 000 Mitglieder.

       Sonnabend, 8. April 1933

       Der Ausschluss der Juden aus den öffentlichen Ämtern.

       Montag, 10. April 1933

       Altenburg. Werbeabend des Bundes Deutscher Mädel und des Deutschen Jungvolks …Jungbannführer Karl Seele legte die Ziele und die Arbeit klar …Unter Ablehnung der Konfessionsunterschiede schreite das Jungvolk zur Überwindung des Klassenbegriffs. Keine Parteipolitik, aber Erziehung zum deutschen Gedanken sei der Weg des Jungvolks.

       Mittwoch, 12. April 1933

       Das Arbeitsamt Altenburg berichtet …Die Zahl der Arbeitsuchenden betrug am Monatsende Februar 1933 15072.

      Das Jungvolkheim, in das uns Werner Quilitzsch am folgenden Mittwoch führte, lag an der „Neuen Sorge“, einer steilen Straße, die am Schlossgarten entlang hinauf zum Schloss führt. Das Haus, in dem sich das Heim befand, erkannte ich als dasjenige wieder, wo ich im Jahr vor meiner Einschulung einen Kindergarten besuchte -vermutlich damit ich lernen sollte stillzusitzen. Nun befand sich in den gleichen Räumen das Deutsche Jungvolk. Eigentlich war es noch immer eine Art Kindergarten denn, wie ich bald feststellen konnte, trafen sich hier nur die Jüngsten. Als wir eintraten, hatte der Heimabend soeben begonnen. Im Raum saßen etwa 15 Jungen an einer langen Tafel, an deren Stirnseite der Führer dieser Truppe stand. Er überprüfte gerade die Anwesenheit und so kamen wir noch rechtzeitig, um unsere Namen zu nennen und uns auf die nächststehenden Stühle zu schieben. Wie jener erste Heimnachmittag im Einzelnen ablief, weiß ich heute nicht mehr aber mit großer Begeisterung habe ich daran sicher nicht teilgenommen. Jedenfalls musste man auch hier stillsitzen wie in der Schule. Die Geschichte, die vorgelesen wurde, war eine Fortsetzungslesung. Die Lieder, die gesungen wurden, kannte ich nicht und viele Begriffe, die man verwendete, waren so neu, dass ich nichts damit anfangen konnte. Interessant fand ich den Jungzugführer. Das war der große sympathische Junge an der Stirnseite des Tisches. Er führte das Wort, nahm zum Schluss meine Personalien auf und gab allen irgendwelches Werbematerial aus, das wir bis zum nächsten Mal verteilen sollten. Schließlich mussten wir auf dem Hof in einer Linie Aufstellung nehmen. Man nannte das „Antreten“. Der nächste „Dienst“ sollte am Wochenende sein. Da gehe man ins „Gelände“. Solch neuen Begriffe schafften in meinem Kopf keine Klarheit über den Sinn des Ganzen. Weshalb ich aber von diesem Tage an immer wieder am Jungvolkdienst teilnahm, kann ich bis heute nicht genau beantworten. Jedenfalls hat Richard Köhler, der Jungzugführer, den wir „Hardchen“ nannten, mit seinen damals 16 Jahren großen Eindruck auf mich gemacht. Je mehr ich ihn


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