Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs

Blind am Rande des Abgrundes - Fritz Krebs


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selbst ehrt, wenn sie die gefallenen Brüder und Väter nicht vergisst …

      An jenem Tage erlebte ich erstmals eine Sonnwendfeier. Verstand ich die gehaltenen Reden auch nur bruchstückhaft, so imponierte mir umso mehr der riesige brennende Holzstoß, der die mir bekannten Lagerfeuer in seiner Flammengewalt um ein Vielfaches übertraf. Von da an erlebte ich viele solche archaische Riten mit Feuersprüchen und dem anschließenden Durchspringen der kleiner gewordenen Flammen. Solche Veranstaltungen machten nicht klüger aber gefügiger. Wir erlebten etwas und waren immer zur Stelle wenn man uns rief. Auch im Festumzug zum Erntedankfest marschierten die Hitlerjugend, das Jungvolk und der Bund Deutscher Mädel als zukunftweisende Werbeträger der neuen Machthaber fröhlich durch die Stadt.

      Ständig war in Altenburg etwas los. Einen besonderen Eindruck hinterließen bei vielen Menschen die Altenburger National- und Heimatfestspiele, die in den Monaten Juni und Juli 1933 mit großem Aufwand durchgeführt wurden. Die Betonung der nationalen und regionalen Geschichte beim großen Festumzug mit all den vorbeiziehenden glänzend ausstaffierten Fürsten, Rittern und Trachten versetzten nicht nur uns Jungen in einen Zustand heller Begeisterung. Auf dem Schlosshof hatte man eine Freilichtbühne errichtet, um die Geschichte vom „Prinzenraub zu Altenburg“ aufzuführen. Das vor der prächtigen Kulisse des Schlosshofes von Schauspielern des hiesigen Landestheaters dargebotene Stück wurde in vielen Wiederholungen aufgeführt. Wir Kinder verfolgten das Geschehen voller Spannung und innerer Erregung. In den Schulpausen, zu Hause und auf der Straße gab es in diesen Tagen unter Jungen meines Alters nur ein Thema: Ritter, ihre Burgen und Waffen .Natürlich wurde intensiv über den Ritter Kunz von Kauffungen diskutiert. Wir hatten ihn während der Freilichtaufführung hoch zu Ross über den Hof des gleichen Schlosses reiten gesehen, aus dem er vierhundert Jahre zuvor die kurfürstlichen Prinzen geraubt hatte, um die Einhaltung eines vom sächsischen Kurfürsten gegebenen Versprechens zu erzwingen. Wer von uns schon Mitglied im Deutschen Jungvolk war, wusste, dass er als Altenburger zum Jungstamm „Kauffungen“ gehörte. Kein Wunder, wenn man da schon ein Wenig stolz darauf war, in der Tradition eines solchen Kämpen zu stehen. Mit einem so abgeklärten Satz wie: „Torheit und Stolz wachsen auf einem Holz“, sofern man ihn auf das Erwachen eines kindgemäßen Nationalstolzes überhaupt anwenden konnte, hätte uns in diesem Zusammenhang niemand beeindrucken können.

      Am Festumzug waren auch die Handwerkerinnungen und viele örtliche Vereine beteiligt. Auch mein Vater nahm daran mit seinen Sportsfreunden vom Deutschen Schäferhundeverein teil, verkleidet als mittelalterlicher Jäger und mitsamt seinem Hund Alf. Für die historisch passende Einkleidung aller Mitwirkenden hatte das Altenburger Landestheater gesorgt.

      Von der Stimmung der Altenburger und den Eindrücken dieses Ereignisses mag die Wiedergabe eines Ausschnittes aus dem Bericht in der Altenburger Landeszeitung einen treffenderen Eindruck vermitteln als ich ihn aus meiner Erinnerung heute noch zu geben vermag:

       Montag, 3. Juli 1933

       Altenburger National- und Heimatfestspiele … Der Sonntag brachte den großen historischen Festumzug, ….Fanfarenbläser ritten dem Zug voraus; ein Reiter, der die Standarte des Kurfürsten trug, folgte. Stadtpfeifer, Musikanten in den schönen Trachten geleiteten den Wagen des kurfürstlichen Hofes durch die Stadt …. Ritter, Reisige, … die Gruppe der Köhler. Die Gruppen der Richter, der Geschworenen, der Nonnen und Mönche beschlossen den ersten Teil des Zuges. Der zweite brachte die Innungen in den alten Trachten … Fleischer, Schmiede, …Schneider, …Schuhmacher..die Bäckerinnung. Die Jäger kamen zu Fuß und zu Pferd und brachten ihre laut kläffende Meute mit. Die Falknerin saß zu Pferde … Der dritte Teil des Zuges brachte hinter den Spielleuten Kunz von Kauffungen und schließlich den Wagen, auf dem die Burg Kauffungen zu sehen war. Die Freunde und Verwandten des Kunz von Kauffungen saßen vor dem Tore ihrer Burg. Der Wagen hinterließ einen sehr guten Eindruck … Zum vierten Teil des Festzuges, der die Mitwirkenden des Festspieles „Deutschlands Erwachen 1813“ vorführte, ritt hinter den Kapellen Oberst Bauer …

      Wie klug hätte wohl ein einfacher Bürger dieser Stadt sein müssen, um zu erkennen, dass auch hinter einem solch bunten und fröhlichen Heimatfest die nüchterne Berechnung politischer Machthaber an den Fäden zog. Die kritischen Stimmen waren damals wohl schon sehr leise geworden. Ich hörte sie nirgends. Vielleicht hatte die Mehrheit der Menschen einfach keine Lust mehr, sich ihre erwachenden Hoffnungen auf ein besseres Leben zerstören zu lassen. Jedenfalls billigten in der Volksabstimmung am 12. November 1933 95,1 % der Deutschen durch ihr „Ja“ die Politik der Nationalsozialisten. Von den 4,9 % klügeren Neinsagern las man manchmal negative oder warnende Berichte in der Zeitung wie beispielsweise diesen:

       Donnerstag, 16. November 1933

       Landesverräter im Gewand der „Bibelforscher“. Die verbotenen „Bibelforscher“ hatten anlässlich dieser Wahl unter den bedauernswerten Anhängern die Parole verbreitet, nicht an der Wahl teilzunehmen.

      Noch wusste ich nicht, dass auch eine in unserer Straße ansässige Familie zu der genannten Glaubensgemeinschaft gehörte. Es war die Familie Rank, deren Sohn Wolfgang mit mir in die gleiche Schulklasse ging. Er war ein kräftiger aber sehr stiller Junge. Mit ihm hatte ich früher häufig gespielt. Dabei waren wir wie schon berichtet einmal Zeugen einer Prügelei von zwei Männern vor dem Eingang zu Ranks Grundstück. Wolfgang selbst war und blieb die Friedfertigkeit in Person. Ich sollte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nach meiner Heimkehr aus langer Gefangenschaft erfahren, dass ihn diese Friedfertigkeit und seine Glaubenshaltung im Reiche Adolf Hitlers das Leben gekostet hat. Man hatte ihn erschossen, weil er sich weigerte eine Waffe zu tragen. Bei Wahlen hielten sich seine Eltern von der Wahlurne fern. Ich erfuhr dies aus Bemerkungen meiner Eltern, die ich unbeabsichtigt mithörte. Auf der Straße hörte ich dazu schon eher herabsetzende Worte zum Thema „Bibelforscher“. Selbst die Kirche wollte von diesen Leuten nichts wissen. Eigenartigerweise machte es den Eindruck, als hätte es in der Öffentlichkeit zunächst keine Probleme zwischen Kirche und Nationalsozialismus gegeben. Das stimmte zwar nicht, scheint aber aus der folgenden Notiz in der Altenburger Landeszeitung hervorzugehen:

       Dienstag, 21. November 1933

       Gemeinsamer Kirchgang der NSDAP am Bußtag … Morgen, den 22. November, am Bußtage, findet in allen Kirchen vorm. 1/2 10 Uhr ein gemeinsamer Kirchgang der NSDAP statt, und zwar nehmen auf Anordnung der Kreisleitung die Formationen nach folgendem Plane an den einzelnen Gottesdiensten teil.

       Bartholomäikirche: Amtswalter, SS-Sturm Streubel und SA-Reserve.

       Brüderkirche: Übrige SS, SS-Motorsturm, SA und Stahlhelm.

       Agneskirche: Nachrichtensturm, Hitlerjugend, Jungvolk und BDM.

      Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich an einem solchen Gottesdienst teilnahm. Unsere Gemeindekirche war außerdem die im genannten Aufruf nicht erwähnte kleine Katharinenkirche des Ortsteiles Rasephas.

      Rückschauend auf jene Jahre denke ich, dass es mehr sensible und gleichermaßen auch kluge Leute in unserm Land gegeben hat als es das Wahlergebnis vom 12. November 1933 ausdrückt. Vielleicht waren sie nur zu feige, dieser Mischung aus politischer Ungereimtheit und rigoros agierender Dummheit der neuen Machthaber durch ihre Neinstimme entgegenzutreten. Für mich ist es kein Trost, damals zu den törichten Kindern gehört zu haben, denen man die Gnade der späten Geburt gewähren darf. Dazu hat meine Generation einen zu hohen Preis für die Mitwirkung bei der Aufführung des Dramas vom Dritten Reich zahlen müssen.

      Ich bin allerdings auch nicht bereit, mich für meine Kindheit zu entschuldigen, nur weil sie zufällig in die Jahre von Hitlers Regierungszeit fiel. Die Welt der Kinder ist immer eine andere als die Gleichzeitige der Erwachsenen. Auch die Unsere war, so wie wir sie damals sehen konnten, schön, bunt und voller Erlebnisse. Wir wurden hart gemacht im Ertragen von Strapazen. Man machte uns stolz und opferbereit für die Gemeinschaft. Das alles entsprach Idealen, die wir zu bejahen lernten. Wir fragten ja nicht danach, woher sie kamen. Meine Erziehung im Elternhaus verhinderte zu meinem Glück, dass ich Härte und Hass gegenüber anderen Menschen oder Gruppen entwickeln lernte. Auch die Schule bahnte bei mir Interessen und Neigungen an, die trotz aller Dominanz der NS-Politik in den Lehrplänen


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