Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs

Blind am Rande des Abgrundes - Fritz Krebs


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noch das Abitur nachholen zu können, überforderte ihn, weil er sehr früh eine Familie ernähren musste. Damit endete sein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg. Der Beweis für sein damaliges Streben befindet sich in Gestalt einer kompletten Sammlung von Selbstunterrichtsbriefen des Rustinschen Lehrinstituts, Verlag von Bonneß & Hachfeld, heute in meinem Bücherschrank. Darin dokumentiert sich ein Streben meines Vaters, das sein Handeln als Erzieher zweier Kinder wesentlich beeinflusste und vor allem sein Verhalten mir gegenüber prägte. Ich sollte nach seinen Vorstellungen einmal erreichen, was ihm nicht vergönnt war, das Abitur. Dabei war ich überhaupt nicht der Typ eines Aufsteigers, eher der eines einigermaßen begabten Träumers. Nach dem pädagogischen Verständnis meines Vaters gab es für mich zwei Grundregeln: Ich hatte unbedingt zu gehorchen und außerdem meine Hausaufgaben ordentlich zu machen. Ansonsten genoss ich eine ziemlich weitgehende Verfügbarkeit über meine Zeit. Als jedoch die Zeit heranrückte, wo sich die Kinder meines Alters auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium oder das Realgymnasium vorbereiten mussten, da lehnte ich ab die Schule zu wechseln. Man meldete mich trotzdem im Herzog- Ernst-Realgymnasium der Stadt Altenburg an. Im Winterhalbjahr trainierte mich mein Klassenlehrer, gemeinsam mit vier anderen zur Aufnahmeprüfung bestimmten Klassenkameraden so gut, dass weder er noch unsere Väter ein Misslingen besagter Aufnahmeprüfung zu Jahresanfang 1935 befürchten mussten. Ein kritischer Moment trat dann doch noch ein, als ich in Marsch gesetzt werden sollte, um mich dieser Prüfung auch wirklich zu unterziehen. Ich weigerte mich dorthin zugehen. Es war das aber gerade die Zeit, in der ich mich intensiv für das Spiel mit jenen schon beschriebenen Elastolin-Soldaten interessierte. Eine bestimmte Figur, es war ein MG-Schütze, hatte ich im Schaufenster des Spielwarenladens auf dem Markt oft bewundert und begehrt. Leider bestand außerhalb von Geburtstagen keine Chance, ihn zu erhalten. So fand meine sparsame Mutter einen interessanten Ausweg: Sie versprach mir, dass ich bei Bestehen der Aufnahmeprüfung ihr altes Bügeleisen bekäme, womit ich beim Schrotthändler sicher die paar Groschen erhalten könnte, die zur Anschaffung des begehrten Stückes erforderlich sein würden. Ich willigte ein und gehörte zu den Anwärtern, die ihre Prüfung bestanden. Alle waren zufrieden, ich bekam meinen MG-Schützen und fand mich kurze Zeit danach in Klasse Sexta des Realgymnasiums wieder. Diese Schule war gerade einer Reform dahingehend unterzogen worden, dass die Schüler sich am Ende der Obertertia entscheiden konnten, ob sie mit einer Lateinausbildung bis zur Oberprima mit Abiturabschluss bleiben oder mit einer Realabschlußprüfung aus der Untersekunda abgehen wollten. Dies dürfte für die Väter minderbegabter Schüler einige Sicherheit bedeutet haben, ihr Geld auch dann noch vernünftig angewendet zu haben, wenn ihre Sprösslinge nur den halben Weg durch die Klassenstufen schaffen sollten. Wenn ich mich recht erinnere, betrug das von meinem Vater zu berappende Schulgeld 200 Reichsmark im Jahr, das war ein ganzes Monatsgehalt.

      An dieser Stelle möchte ich wieder einige Passagen aus der Altenburger Landeszeitung zum Thema Schule einfügen, weil damals der Staat auch hier seinen Einfluss auf die Erziehung der jungen Generation mit Nachdruck geltend machte. Zunächst soll noch eine Notiz der Altenburger Landeszeitung zur erwähnten Reform unserer Schule wiedergegeben werden:

       Dienstag, 29. Januar 1935

       Aufbau des Ernst-Realgymnasiums … der amtliche Name der Schule wird wie folgt festgelegt: „Reformrealgymnasium - Ernst-Realgymnasium“ … Die eingeführte und weiterhin genehmigte Schülermütze ist die weiße mit grünweißgrünem Band …

      Es gab in diesen Jahren noch für jeden Schultyp eine spezielle Mützenfarbe, an der man sofort erkennen konnte, welche Schule von ihrem Träger besucht wurde. Die Volksschüler trugen, wenn sie das wollten, dunkelblaue Schirmmützen, die Gymnasiasten rote, die Mädchen der höheren Mädchenschule blaue mit goldener Litzenecke, die Schüler der Landwirtschaftsschule grüne und so fort. Bei uns hatte jede Klassenstufe noch bestimmte Farbkennzeichnungen an den Mützenbändern. Man konnte sofort erkennen wenn ein Schüler versetzt war. Dem Mützenwesen aus alter Zeit wurde allerdings etwas später von der neuen Obrigkeit ein Ende gesetzt. Die Uniformen der HJ verdrängten dann wenigsten äußerlich die Unterschiede im sozialen Stand der Schüler. Das entsprach den Vorstellungen über nationalsozialistische Jugenderziehung. Den Weg in diese Richtung zeichnete man in der Presse wie folgt vor:

       Donnerstag, 7. November 1935

       So soll die Jugend erzogen werden. Nationalsozialistische Lehrertagung weist neue Wege …

       Freitag, 15. November 1935

       Schülervereinigung des Reform-Realgymnasiums aufgelöst …, um allen Schülern dieser Anstalt Gelegenheit zu geben, in die Hitlerjugend einzutreten …

       Dienstag, 10. März 1936

       Heldengedenkfeier im Ernst-Realgymnasium. Lehrer und Schüler in der Aula. Nach dem gemeinsam gesungenen Liede „Befiehl du deine Wege“ trugen zwei Schüler Gedichte vor. Zwei Lieder des Schulchores leiteten würdig zur feierlichen Ansprache über, die Realoberlehrer Kühn hielt … Feierlich klang leise das Lied vom guten Kameraden am Schluss der Rede durch den Raum … Karl Brögers Gedicht „Liebe der Toten“ rief noch einmal die Gefallenen vor die Seelen der Jugend. Goethes Beherzigung „Feiger Gedanken“ mahnte zu Mannesmut und Tapferkeit. Darauf verteilte der Direktor die Gaben an fünf Schüler, deren Väter Opfer des Weltkrieges geworden sind, zwei Geldspenden und drei Büchergaben … und ging nochmals in einer kurzen Ansprache auf die Bedeutung des 7. März ein: Neben Trauer stehe mit Recht der Jubel; denn Deutschland ist nun durch des Führers Tat ganz frei geworden, alle Schande hat nun ein Ende. Mit dem Gruß an den Führer und den Nationalliedern klang die Feier aus.

       Donnerstag, 12. März 1936

      Zusammenarbeit von Schule und Staatsjugend. Gebietsführer Karl Seele vor der Lehrerschaft des Kreises. Der Redner (sagte): „Jene Eltern, die noch heute Bedenken dagegen tragen, ihre Kinder in das JV und die JM zu lassen, die die nationalsozialistischen Grundsätze ablehnen, bedenken nicht, dass sie in den Herzen ihrer Kinder eine furchtbare Gewissensnot hervorrufen.“

       Sonnabend / Sonntag, 8. / 9. August 1936

       Der Reichs- und preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hat angeordnet, dass zur Teilnahme am schulplangemäßen Religionsunterricht, an Schulgottesdiensten, Schulandachten und ähnlichen religiösen Schulveranstaltungen kein Schüler gezwungen werden darf.

       Dienstag, 29. September 1936

       Neue Erziehungsmethoden für unsere Jugend. Nur noch 12-jährige Höhere Schule.

       Freitag, 4. Dezember 1936

       Reifeprüfung für Unterprimaner im März. 12-jährige Schulzeit wird durchgeführt. , dass die jetzigen Schüler der Unterprima der Höheren Schulen für Jungen bereits am Schluss dieses Schuljahres die Reifeprüfung ablegen und zwar in der Woche vom 15. bis 20. März 1937. Dabei fällt die schriftliche Prüfung weg … Auch für die Schüler der jetzigen Oberprima, die in der Woche vom 1. bis 6. Februar 1937 die Reifeprüfung ablegen, fällt die schriftliche Reifeprüfung fort. Durch diese Anordnung, die naturgemäß den Charakter von Übergangsmaßnahmen tragen müssen, wird die 12-jährige Schulzeit praktisch eingeführt.

      Den betroffenen Examinanten war eine solche Regelung vermutlich eine frohe Botschaft. Sie werden in der Mehrzahl wohl kaum auf Gedanken gekommen sein, die sich einem Leser dieser Bekanntmachung nach dem Ende des Zweiten Weltkriege aufdrängen muss: Hitler verschaffte sich hierdurch zwei Jahre vor Kriegsausbruch den schnellen Zugriff auf zwei gut qualifizierte Jahrgänge für die Einberufung zum Wehrdienst. Wie sich bald zeigen sollte, waren darunter tatsächlich viele, die später als Offiziere an allen Fronten dieses wahnwitzigen Krieges standen und fielen.

      Die folgende Zeitungsmeldung belegt noch einmal diesen Sachverhalt. Die darin am Schluss genannten beiden Jahrgänge sind die Jahrgänge der Schüler von Unterprima und Oberprima des Schuljahres 1936/37:

       Dienstag, 15. Juni 1937

       Gestellungsaufruf: Auf den in der Ausgabe vom 12. Juni 1937 erschienenen Gestellungsaufruf


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