Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs
ich also nun in die höhere Schule. Sie lag auch geografisch gesehen hoch über der Stadt. Das mochte noch angehen wenn sie nur nicht auch noch in ziemlicher Distanz zu unserer Wohnung gelegen hätte. Die ersten Jahre, bevor ich über ein Fahrrad verfügte, brauchte ich täglich etwa anderthalb Stunden für Hin- und Rückweg zusammen. Nur bei eindeutig starkem Regen erhielt ich von meiner Mutter Zehn Pfennig für den Bus, der am Bahnhof abfuhr und in zehn Minuten zu erreichen war. Natürlich gab es Schüler, die täglich mit dem Bus hin und zurück fahren konnten aber das betraf nur ganz wenige. Darunter Heinz Apel, einen Bauernsohn aus dem nördlich der Stadt gelegenen Ort Knau. Er musste von dort ohnehin schon dreißig Minuten gehen bis zur Bushaltestelle am Bahnhof. Es gab in Sexta recht viele Söhne aus den reichen Altenburger Bauernhöfen. Arbeiterkinder waren bei uns in der Schule noch eine große Ausnahme. Die meisten meiner Klassenkameraden entstammten dem Mittelstand und dem gehobenen Bürgertum. Ich war froh, dass es außer mir noch zwei Söhne von Lokomotivführern bei uns gab: Horst Weinrich und Joachim Voigt. Ich kannte sie von meiner Volksschule her und war froh, nicht nur unter Sprösslingen von Steuerinspektoren, Prokuristen, Ingenieuren, Lehrern, Ärzten, Großbauern und Geschäftsleuten zu sein. Unser Schulgebäude gefiel mir recht gut. Vor dem ansehnlichen Backsteinbau, über dessen Haupteingang die Bibelworte eingemeißelt waren: „Die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang“, breitete sich ein gepflegter Schulpark aus. Es gab darin viel Rasenfläche aber auch Buschwerk und einige hohe Bäume. Rechtwinklig zum Schulgebäude schlossen sich rechter Hand eine Turnhalle und links das Wohngebäude für den Direktor an. Oberstudiendirektor Dr. Fritzsche bewohnte das Obergeschoß des einstöckigen Gebäudes. Darunter befanden sich die Biologiekabinette und die dazugehörenden Fachunterrichtsräume. Im Hauptgebäude befanden sich alle Klassenräume, eine ansehnliche Aula mit geschnitzter Wandtäfelung, Dienst- und Konferenzräume und - was mich später sehr beeindrucken sollte - ein Chemiehörsaal mit dazugehörenden Kabinetten für Gerätschaften und Chemikalien, sowie einem richtigen Praktikumsraum für Schüler. Zwei Stockwerke darüber befanden sich eine ähnlich große Raumanordnung für den Physikunterricht. Vorerst blieben diese Räume für mich verschlossen. Dafür konnte ich mich am Zeichensaal begeistern, in dem Zeichenoberlehrer Max Koepke regierte.
Als Sextaner erhielten wir in der Pause den Platz vor der Turnhalle zugewiesen, auf dem es zwar eine Lehreraufsicht aber keine Bewegungseinschränkungen wie in der Hans-Schemm-Schule gab, wie die Nordschule jetzt hieß, aus der ich kam.
Je weiter man in den Klassenstufen aufstieg, umso mehr wanderte man mit seiner Klasse im Schulpark auf das Direktorgebäude zu. Dort stand auf einer kleinen Erhöhung eine riesige Trauerweide, unter der einige Bänke aufgestellt waren. Auf ihnen saßen in den Pausen die Oberprimaner und betrachteten gelassen und mit einem gewissen Abstand das temperamentvollere Geschehen unter den übrigen Schülern. In ähnlich kluger Weise waren die Klassenräume auf das Schulgebäude verteilt. Natürlich befanden sich die höheren Klassenstufen in den oberen Stockwerken. Bemerkenswert war jedoch, dass die Klassen für die Jahrgänge der Flegeljahre unmittelbar gegenüber dem Direktorzimmer lagen. Das hat mir zur Zeit als mein Jahrgang in die Periode unkontrollierbarer Temperamentsausbrüche gelangte, einmal eine schallende Ohrfeige vom „Rex“ eingebracht. „Rex“ war die Kurzbezeichnung für den Obersten Chef des Hauses. Ein König war dieser lebhafte, von Statur kleine Mann tatsächlich für uns. Seinen Geschichtsunterricht konnte man eher als Vorlesung bezeichnen und die hielt er sehr souverän. Wir lauschten auf seine Darstellung geschichtlicher Abläufe und Zusammenhänge und waren gefesselt von seinem Vortrag. Das allerdings sollte ich erst von der Mittelstufe ab erleben dürfen. Zunächst zollte ich ihm noch den alleinigen Respekt als dem, der hier das große Sagen hatte. In meinem ersten Jahr auf dieser Schule gelang es mir am ehesten bei Herrn Koepke mit meinem Zeichentalent Eindruck zu machen. Wie so oft in unserem vom Krieg gezeichneten Land, gab es auch um diesen Lehrer eine traurige Geschichte aus hingebungsvoll vaterlandstreuer Jugendzeit.
Koepke Max, wie wir sagten, war Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg gewesen. Wir erfuhren bald aus seinem Erzählen, dass ihn ein Granateinschlag sehr schlimm im Bauchraum verletzt hatte. Obwohl man ihn schon fast aufgegeben hatte, war er im Lazarett doch einigermaßen wieder hergestellt worden. Danach hatte er Zeichnen und Kunstgeschichte studiert und wurde schließlich ein ausgezeichneter Pädagoge auf diesem Gebiet. Als wir etwas älter waren, erfuhren wir allmählich, dass sein Körper als schlimmste Folge seiner Kriegsverletzung irreparable Schäden im Unterleib davongetragen hatte. Seine Ehe blieb deshalb kinderlos und voller Probleme. Dieser Mann war äußerst sensibel, temperamentvoll und fantasiereich. Ich hatte diesen Lehrer sehr gern. Sein Unterricht war sehr abwechslungsreich. Manchmal erzählte er selbsterfundene Geschichten, aus denen wir dann nach freier Wahl Bilder malen sollten. Seine Geschichten hatten gewöhnlich einen düsteren - geheimnisvollen Schluss. Heute neige ich zur Ansicht, dass dieser Lehrer als schlimmstes Übel aus dem Krieg auch noch eine Gemütserkrankung mitgebracht hatte. Er war übrigens ein leidenschaftlicher Verehrer seines Führers. Seine Bemerkungen über Hitler hatten schon manchmal etwas Skurriles an sich, besonders wenn er so tat, als kenne er die geheimsten Überlegungen unseres Kanzlers. Eines Tages, schon mitten im zweiten Weltkrieg, fand man ihn erhängt auf dem Boden unserer Schule. Ich sehe ihn heute als ein spätes Opfer des ebenso sinnlosen Ersten Weltkrieges.
Wie Herr Koepke, so waren noch viele unserer Lehrer als junge Männer in den Ersten Weltkrieg gezogen. Die meisten von ihnen trugen davon zumindest irgendwelche Schrullen mit sich herum, über die wir gelegentlich lachen konnten. Da war zum Beispiel Oberstudienrat Dr. Doelle, ein mächtiger Mann als Vertreter des Direktors, als souveräner Mathematiklehrer und auch von seiner Statur her. Wir nannten ihn „Bobby“. Im Ersten Weltkrieg hatte er bei der schweren Artillerie gedient. Wenn wir es schafften, ihn davon erzählen zu lassen, dann mussten wir uns mächtig das Lachen verkneifen. In seinem Bericht triumphierte über den Feind gewöhnlich die Fähigkeit zu genauer mathematischer Berechnung einer Geschoßbahn. Der Clou kam für uns immer dann, wenn sein Bericht den Punkt erreicht hatte wo Bobby als Ballonbeobachter aufsteigen musste, um die Stellung eines französischen Eisenbahngeschützes ausfindig zu machen, die gerade durch Verlegen von Eisenbahngleisen eingerichtet wurde. Vor unseren tränenden Augen stieg Bobby in seiner derzeitigen Gestalt in den Korb des Ballons und ließ das Luftgefährt gefährliche Schwingungen vollführen. Wenn dieser Bericht den zielgenauen Einschlag der von einem Elefantengroßen Ballonbeobachter gesteuerten Artilleriesalve mit dem sächsisch singenden „… genau uff de Weiche!“ beendete, hatten wir alle aufgeblasene Backen. Im Gemüt eines alten Turnlehrers, der schon während meiner Unterstufenzeit in den Ruhestand ging, hatten sich die Soldatenjahre in der Gestalt von Marschliedern verhakt. Bei ihm begannen die Turnstunden jedes Mal damit, dass wir in der Turnhalle herummarschieren und Marschlieder singen mussten. Immer kam dabei das Lied des früheren Altenburger Regiments zum Einsatz: „Wir sind die Füsiliere, des Königs Grenadiere, wir ziehen in das Feld, …hurra, hurra, hurra 153 Regiment.“
Auch unser langjähriger Deutsch- und Klassenlehrer Herr Studienrat Löbe hatte als Offizier am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Von ihm hörten wir kaum etwas über diese Zeit. Er war ein nationalgesinnter Mann, den wir recht gern hatten. Zu den Nationalsozialisten zog es ihn nicht hin. Er trug kein Parteiabzeichen. Seine Neigung zur Milde im Umgang mit uns nutzten wir kaum einmal wirklich aus. Sein Bruder war Pfarrer an der Altenburger Brüderkirche. Wie diese Beispiele zeigen, war die ältere und mittlere Generation unserer Lehrer vom Erleben des Krieges mehr oder weniger geprägt, manchmal auch davon gezeichnet. Unter den Lehrern der jüngeren Generation hob sich unser späterer Turn-, Biologie- und Erdkundelehrer als forscher Pädagoge des neuen NS-Typs heraus. Wir nannten ihn Winnetou. Diese respektvolle Bezeichnung war aus unserer Sicht berechtigt denn er scheute sich im Turnunterricht nicht, uns jede Übung auch selbst vorzuturnen. Dafür konnte er einem Angsthasen ganz schön zusetzen wenn dieser sich vor einem Turngerät scheute. Als wir etwa 15 Jahre alt waren, ließ er uns zum Beispiel eines Tages beim Schwimmunterricht im Städtischen Freibad in einer Reihe antreten und hintereinander die Treppe zum Sprungturm hinaufklettern. Ohne es vorher besprochen oder gar geübt zu haben, musste jeder in der Reihenfolge wie er über die Treppe heraufkam zum Ende des Dreimeterbrettes treten, sich mit dem Rücken zur Wasserfläche stellen und von dort einen Abfaller rückwärts in das Becken machen. Winnetou stand im Sprungturm am vorderen Ende des Sprungbrettes und sagte jedem, er solle die Arme hochnehmen und ein Hohlkreuz machen. Tat er das nicht und sah sich nur ängstlich um, trat Winnetou auf das Brett,