Blind am Rande des Abgrundes. Fritz Krebs
in der Nacht vom 22. zum 23. September folgte für die Altenburger eine große Luftschutzübung mit Verdunkelung in der Nacht. Es gab viele Veranstaltungen, in denen über und zur Jugend Reden gehalten wurden.
Offenbar gab es unter den Eltern manche Bedenken und Ängstlichkeiten bezüglich der Jugendpolitik. Hitler hatte auch in der Augustwahl 1934 5% weniger Ja-Stimmen erhalten als im November 1933. Mag sein, dass unter den Erwachsenen allmählich einige Ängste aufkamen hinsichtlich der Zukunft. So sprach am 14. November 1934 der Reichsstatthalter Sauckel über den Reichssender Leipzig zur Jugend. Diese Rede war den Machthabern anscheinend so wichtig, dass man zuvor in der Altenburger Landeszeitung die folgende Notiz erscheinen ließ:
Mittwoch, 11. November 1934
Die Abteilung R (Rundfunk) der HJ Gebietsführung Thüringen gibt durch die Gebietspressestelle bekannt: „Wir weisen nochmals darauf hin, dass alle HJ-Einheiten(HJ, DJ und BDM) am Mittwoch, dem 14. November von 20.10 Uhr bis 20.30 Uhr die Rede des Reichsstatthalters Sauckel über den Reichssender Leipzig abzuhören haben.“
Bemerkenswert ist die Art und Weise, in der diese Forderung an die Jugend herangetragen wird. Sie ist an den Befehlston schon gewöhnt. Einige Tage später erscheint in der Altenburger Landeszeitung die Wiedergabe einer Rede, die offensichtlich an die Adresse der Eltern gerichtet ist:
Freitag, 16. November 1934
Fragen deutscher Jugenderziehung. Reichsminister Dr. Rust nimmt zu den dringendsten Fragen Stellung … Grundsätzlich sei es ihm immer bewusst gewesen, dass sofort nach der Machtergreifung die Umstellung der gesamten Erziehung auf den Gemeinschaftsgedanken erfolgen musste. In der Gemeinschaft musste durch körperlichen Einsatz bis zum Äußersten der neue Vollmensch gebildet werden, und das gelte besonders, wenn man eine Führerschicht schaffen wolle, sonst bekäme man eine Intelligenz, die dann fortliefe wie 1918 wenn die größten Aufgaben zu leisten seien .. .Der blasse , mit philologischen Kenntnissen überlastete Schülertyp solle verschwinden, um einem vollwertigen Menschen Platz zu machen. Abschließend wendete sich der Minister gegen die im Auslande manchmal vorkommende Umdeutung der neuen Erziehung als einer Erziehung zum Krieg. Die Jugend hänge am Wort des Führers, und der Führer wolle nichts anderes als den Frieden in Ehren, aber nicht den Krieg.
Feier meines 10. Geburtstages im Hause meiner Großeltern in Stendal Foto: 1934
7. Aufstieg
Das Jahr 1935 brachte Hitlers ehrgeiziger Militär- und Außenpolitik sichtbare Fortschritte. Der neue „Volksempfänger“, den Goebbels im August 1933 auf der großen Funkausstellung in Berlin als besonderen Schlager herausgestellt hatte, trug jetzt schon die Erfolgsmeldungen in viele Haushalte. Wir hatten noch kein Rundfunkgerät und waren deshalb auf die Zeitungen angewiesen. Mit sensationellen Meldungen begann schon der Januar. In diesem Jahr hatte die Altenburger Landeszeitung auch noch manch weitere Gelegenheit, uns mit Schlagzeilen zu versorgen:
Dienstag, 15. Januar 1935
Die Saar ist heimgekehrt. … Die Altenburger Kundgebung beginnt heute Abend um 7.45 Uhr.
Selbstverständlich war die Hitlerjugend wieder mit auf dem Marktplatz, die Reichswehr jedoch diesmal auch. Nicht lange danach stand das Militär sogar bevorzugt im Blickfeld der Presse:
Montag, 18. März 1935
Allgemeine Wehrpflicht … Altenburg ehrt die gefallenen Helden. … Heldengedenkfeier auf dem Marktplatz … von Neindorff, Major und Standortältester hielt Ansprache … Parademarsch und Vorbeimarsch der Soldaten der Reichswehr … Gedenkfeier mit Pfarrer Löbe auf dem Heldenfriedhof.
Es war bei unserer Erziehung kein Wunder und auch nicht zu übersehen, dass wir Jungen beim Anblick paradierender Soldaten in Begeisterung gerieten. Solch ein Ereignis kannten wir ja nur von Bildern. Die Machthaber nutzten diese Gelegenheit geschickt aus, um die Jugend noch fester auf den Kurs der Militarisierung einzuspuren, wie die folgende Zeitungsnotiz zeigt:
Dienstag, 19. März 1935
Der thüringische Minister für Volksbildung, Fritz Wächtler, hat am 18. März folgende Anordnung erlassen: „Der Führer und Reichskanzler hat mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die deutsche Wehrfreiheit wieder aufgerichtet ….Unter dem Eindruck dieser großen geschichtlichen Wende … ordne ich folgendes an: Bis zum Ende des laufenden Schuljahres ist in allen mir unterstellten Schulen vom 6. Schuljahr ab, das Reichsgesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts zu stellen … Es muss in der Jugend das tiefbeglückende Bewusstsein wachgerufen werden, dass ihr das Erleben größter und welthistorischer Entscheidungen beschieden ist …“
Diese „welthistorischen“ Entscheidungen waren damit verbunden, dass bereits im Juni zur Musterung der Jahrgänge 1914 und 1915, also der 20- und 21-Jährigen aufgerufen wurde. Im gleichen Monat verordneten neue Gesetze die Arbeitsdienst - und die Luftschutzpflicht. Altenburg wurde auch bald wieder eine Garnisonstadt. In seine Kasernen an der Leipziger Straße zog, wie schon im zweiten Deutschen Kaiserreich, die Infanterie ein. Das Leben der Menschen in der Stadt verband sich von nun an immer enger mit dem Leben der hier stationierten Soldaten. Wie alles Neue, zog uns Kinder dieses Geschehen an. Wir rannten anfangs überall hin wo Soldaten übten und marschierten. Das ließ mit der Zeit wieder etwas nach, wie alles was zur Gewohnheit wird. Zur Gewohnheit wurden auch bald das Knattern der Platzpatronen auf den Wiesen vor der Stadt, das Marschieren der zur täglichen Übung ausrückenden Marschkolonnen und ihr lauter Gesang in unserer Straße. Das Interesse der heiratsfähigen jungen Mädchen blieb groß. An den Wochenenden sah man immer mehr von ihnen mit ihrem schmucken Soldaten spazieren gehen. Größere Militärveranstaltungen zogen allerdings auch die übrige Bevölkerung in ihren Bann. Die Uniform als Repräsentation höchster Macht im Staate hatte unter den Deutschen leider noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt.
Hierzu wieder ein paar Notizen aus der Altenburger Landeszeitung, die zeigen, dass man dieses Interesse wachzuhalten gewillt war:
Montag, 1. Juli 1935
Rückkehr des II. Bataillons … Von unserem II. Bataillon erhalten wir die Nachricht, dass die Übungen auf dem Truppenübungsplatz beendet sind. Das Bataillon wird einen Teil des Rückweges, und zwar von Mittweida bis Altenburg im Fußmarsch zurücklegen.
Dienstag, 24. September 1935
Willkommen im neuen Standort! Die Ankunft der IV. Abteilung des Artillerieregiments Naumburg. Gestern sind zwei Batterien des Art. Rgt. Naumburg in Altenburg, ihrem neuen Standort eingetroffen. Die offizielle Begrüßung wird am 30. September stattfinden.
Das war etwas für uns Jungen. Es gab nun auch noch Kanonen in unserer Stadt. Für die Artillerie war in Altenburg eine Erweiterung des Kasernenkomplexes vorgenommen worden. Außerdem hatte man eine ehemalige Fabrik im Ortsteil Kauerndorf für die zu Kurzübungen einberufenen Reservisten der Infanterie eingerichtet. Das war jenes oben genannte II. Bataillon. Sie hießen bei allen Leuten nur „die 8-Wochen-Soldaten“. Aus der Reichswehr der Weimarer Republik wurde die Deutsche Wehrmacht. Die Presse jubilierte:
Donnerstag, 7. November 1935
Die neuen Flaggen der Wehrmacht … Altenburgs Rekruten schwören Treue der Reichskriegsflagge …
Von der Entwicklung Deutschlands zu einem Militärstaat blieb keine Organisation der Partei unberührt. Damit ging auch für das Deutsche Jungvolk die Phase des romantisch eingefärbten Jugendlebens zu Ende. Es verschwanden bald die bunten, selbst entworfenen Wimpel und Fahnen .Die farbig geflammten Landsknechts Trommeln wichen den einheitlich schwarz-weiß geflammten. Außerdem erhielten wir Dienstgrade und Rangabzeichen. Der Dienst wurde straffer, es wurde geschult und gedrillt. Wir versuchten beim Exerzieren mit der Wehrmacht zu wetteifern. Die Leute sahen