Zauberseele. Ingrid Mohr
Hotel Mama
Wachkoma – Trauma – Stillstand
Vorwort
Mein einziger Sohn Robert wurde im Alter von 30 Jahren bestialisch ermordet. Ein grausamer Schicksalsschlag, bei dem Suizidgedanken zu verarbeiten waren.
Wenn die Seele schreit, ist sie offen und empfänglich für alles, speziell für Krankheiten, die mich hart trafen.
Mir ist jedoch ein „posttraumatisches Wachstum“ widerfahren, denn diejenigen, die sich von so schweren Schicksalsschlägen nicht unterkriegen lassen, machen die paradoxe Erfahrung, dass aus der eigentlichen Verletzlichkeit eine neue innere Kraft und Stärke erwächst. Und diese habe ich wieder gefunden.
2014
Kindermund
Unser kleiner Piefke war gerade sechs Jahre alt. Alle Mütter, die ihren Kindern baumwollweiche Trikotschlafanzüge überstülpten, wissen von den ausgebeulten Hosenbeinen in der Kniegegend eines solchen Nachtgewandes. Nach dem allabendlichen Waschen stand unser Piefke, das Oberteil seines Anzuges noch nicht übergestreift, im Wohnraum, von mir aufgefordert, Papi Gute Nacht zu sagen. An seinem mageren Oberkörper konnten wir die Klavierrippen zählen, denn er war nun nicht mehr so pummelig, wie früher als Kleinkind. Plötzlich und wild entschlossen ballte er die kleinen Fäuste, ging hüftewiegend in drohender Gebärde mit eingeknickten Trikotbeutelknien in Stellung, schaltete seine wütenden Blicke auf Morddrohung, forderte kraftstrotzend voll Mut und geballter Wucht seinen Vater auf und sagte: „Los, komm her! Komm her, du feige Sau!”
Die feige Sau und ich konnten uns das Lachen nicht verkneifen und Piefke musste blitzschnell ins Bett.
Den ganzen Abend mussten mein Mann und ich unaufhörlich über den Mut unseres kleinen Sohnes lächeln.
Ostereier
Jedes Jahr Ostern fuhren wir mit unserem Piefke zu den Großeltern nach Bayern. Die hatten ein schönes Haus mit Garten. Piefke bewohnte ein kleines Dachstübchen oben unter dem Giebel und konnte alles im Garten und dem angrenzenden Wald beobachten. Er war gerade vier Jahre alt. Wir riefen ihn und er kam heruntergetrabt zum Frühstück. Gleich danach sollte er nun die Ostergeschenke suchen, die sein Vater frühmorgens heimlich im Garten versteckt hatte. Piefke setzte sich trotzig auf die kleine Gartenbank neben dem Sandkasten, den ihm der Opa gestaltet hatte. Sein Vater stubste ihn an:
„Nun, willst du nicht die Geschenke suchen, die der Osterhase für dich hier im Garten versteckt hat?“
„Nein, will ich nicht! Du hast sie ja selber versteckt, dann kannst du sie auch alle wieder selber einsammeln!“
Piefke verschränkte seine Arme vor der Brust und schlenkerte mit den Beinen demonstrativ unter dem Sitz der Gartenbank hin und her. Sein trotziges Gesicht ließ keine weitere Diskussion mehr zu. Das war mal wieder ein gelungenes Osterfest!
Lilly und Amely und Tanja
Altweibersommer. 25 Grad wurden uns versprochen. Dabei habe ich die Sommer- und Winterklamotten schon umgeschichtet. Egal, ich trage Zwiebellook, wenn es mir zu warm wird, blättere ich ab. Froh gelaunt ging ich durch den Klinikpark zur HNO-Kinderstation.
Total aufgelöst kam Lilly von der Toilette und schluchzte gottserbärmlich: „Das Loch vom Klo war so schräg, ich hab gewühlt und geangelt, ich konnte meine Zahnspange nicht finden. Ich hab alles versucht, ganz doll. Nun ist sie verschwunden und gleich kommen meine Eltern.“
„Beruhige dich, du kannst doch nichts dafür, das ist nicht deine Schuld. Dir war halt von der Narkose noch schlecht und dann hast du die Spange ins Klo erbrochen. Ich rede gleich mit deinen Eltern.“
Lilly lehnte sich an mich, schlang ihre Ärmchen um meinen Körper und machte einen tiefen Seufzer: „Dann ist es ja gut. Hoffentlich kaufen die bloß keine neue!“
Die kleine rothaarige Amely plapperte sehr viel. Auf ihrem Bett lagen mehrere Kinderbücher und Malhefte mit Buntstiften. Sie hatte ein Ohr verbunden, zog mich zu sich herunter, deutete auf das Nebenbett und sprach leise hinter vorgehaltener Hand: „Die Tanja neben mir, die ist ganz traurig. Ihr Papa ist zu Hause ausgezogen und kommt nie mehr wieder. Muss ihre Mama die Tanja ganz allein in die Länge ziehen?“
Der Tag fing gut an. Kindermund ist was Herrliches. Frohgemut ging ich zum Einkaufen und setzte mich auf die Parkbank, die letzten 25 Grad wollte ich schnell noch genießen, bevor mein gekauftes Gefriefgut auftauen würde.
Nadine und Inge
25 Grad, leicht bewölkt, kein Wind. So ein Wetter wünschte ich mir ständig – und nachts den notwendigen Regen. In welchem Land gibt es das? Ich würde sofort dort hin ziehen. Fröhlich gelaunt ging ich leichtfüßig (mit Rheuma in den Zehen) zur HNO-Kinderstation.
Als ich an das Bett der kleinen sechsjährigen Nadine kam (sie wurde heute Früh eingeliefert), staunte ich über ihre bunt lackierten Fingernägel. Jeder in einer anderen Farbe. Ich betrachtete ihre Fingerkuppen einzeln (morgen Früh vor der OP wäre keine Farbe mehr vorhanden) und sagte zu ihr: „Oh, sieht das süß aus. Hast du dir das selbst gemacht?“
„Nein, meine Mami. Sie hat ein Nagelstudio und da kommen immer Frauen zu Besuch. Meine Mami sagt, sie sitzt ja jetzt an der Quelle. Sie hatte nämlich immer ihre Nägel bis auf den Grund abgekaut und macht sich das nun immer selbst alles neu.“
„Und kaust du denn auch an den Fingernägeln?“
„Nein. Das ist ja verboten. Meine Mama darf das, weil sie ja genügend Ersatz hat und auch viel Geld damit verdient, wenn die Frauen kommen. Und die kauen auch alle an den Nägeln.“
Neben Nadine lag Inge. Sie mischte sich ein und erzählte ganz wichtig: „Meine Mama hat sich die Lippen aufspritzen lassen und der Papa hat ganz doll gemeckert, dass Mami jetzt aussieht sie ein Fischmaul im Schlauchboot.“
Da wurde mir klar, hier reiften schon frühzeitig an Modetrends interessierte Menschen heran. Ich ging grinsend ein Zimmer