Cantata Bolivia. Manfred Eisner

Cantata Bolivia - Manfred Eisner


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der Zug sanft in Bewegung.

      Gegen Morgen, während die ersten Passagiere in dem an der letzten Haltestelle mit neuem Proviant versehenen Bordrestaurant frische Frühstücksbrötchen sowie gebratenen Schinken mit Rührei zusammen mit dem frisch gebrühten Kaffee genießen, schnauft sich die Lok langsam zu den hoch gelegenen Anden hinauf.

       * * *

      Als Josef Rembowski seinen Freund und Geschäftspartner Heiko Keller etwa ein halbes Jahr vor der soeben geschilderten abenteuerlichen See- und Bahnreise Clarissas bereits am Bahnhof von Viacha, zwei Stationen vor La Paz, überraschend in dessen Schlafwagenabteil des Zuges, der ihn aus Buenos Aires herangebracht hat, aufgetaucht war, hatten die beiden natürlich unendlich viel Gesprächsbedarf, um sich gegenseitig, wenigstens mit dem Wichtigsten, auf den neuesten Stand zu bringen. Die beiden sind von ihrer frühen Kindheit an zusammen in Oldenmoor aufgewachsen und im Laufe der Jahre enge Freunde geworden. Es war schließlich auch Josef, der Heiko, Clarissa und deren Kinder die Einreise nach Bolivien ermöglicht hat.

      Seit seiner Geburt in Polen leidet Josef körperlich und seelisch wegen seines verwachsenen Fußes. Als er in Oldenmoor um die Holstenhof-Tochter Frauke Eggers warb, wurde ihm die Verbindung mit seiner Geliebten seitens deren Eltern, vorwiegend durch den extrem nationalsozialistisch eingestellten Vater, sowohl wegen der „undeutschen“ Herkunft als auch seines körperlichen Makels in übelster Art und Weise verwehrt. Deshalb ist Josef zusammen mit seiner Verlobten bereits vor eineinhalb Jahren zunächst nach Saarbrücken und von dort aus nach Paris verzogen, wo sie bei der Hutmacherin Françoise, Fraukes Cousine, untergekommen sind. Josef hat eine überraschend größere Erbschaft seiner Tante, eine gut gehende Bäckerei im polnischen Lodz, gewinnbringend verkauft und den Erlös in amerikanische Dollar umgewandelt. Diese wurden auf einem Konto in den USA deponiert. Mit diesem soliden finanziellen Guthaben gab es für Josef und Frauke keine Hindernisse, an ein bolivianisches Einreisevisum heranzukommen. Die einzige Auflage war, dass sie sich nach ihrer Ankunft der Landwirtschaft zu widmen hätten. Eine Sondergenehmigung zur Errichtung einer Bäckerei hat Josef gegen Zahlung eines Sonderbonus dem bolivianischen Konsul in Bordeaux auch noch abgerungen.

      In La Paz angekommen, haben Frauke und Josef zunächst standesamtlich geheiratet. Mit Glück fanden sie ein großes Haus mit mehreren Zimmern, Innenhof, Küche und Bad in einer kleinen Sackgasse, die von der Avenida Ecuador im Nobelviertel Sopocachi abgeht. Josef und Frauke mieteten es und tauften es wegen seiner Außenfarbe auf den Namen „Casa Azul“ – „Blaues Haus“. Sie nahmen sich vor, darin einigen der so zahlreich in Bolivien eintreffenden Flüchtlinge eine erste Bleibe zu bieten. Durch Zufall wurden sie kurz darauf fündig und erwarben eine Hacienda, ein landwirtschaftliches Gut, das zum Verkauf stand. Es befindet sich in der subtropischen Region der Yungas, etwa 80 Kilometer von La Paz entfernt. Dort sind auch einige der von den Rembowskis unterstützten Flüchtlinge untergekommen, die noch dazu ihre Erfahrung in der Landwirtschaft einbringen konnten, etwas, woran es Josef in der ersten Zeit mangelte. Die Flüchtlinge verdienten sich ihren Lebensunterhalt auf der Hacienda, indem sie emsig beim Aufbau eines langsam, aber sicher Ertrag bringenden Agrarunternehmens mithalfen.

      Etwa ein Jahr später zogen Frauke und Josef hinüber in eine kleine, möblierte Villa direkt gegenüber der Casa Azul. Sie gehörte einer französischen Dame, Madame Isabel, Ehefrau von Señor René Adrian senior, ein erfolgreicher Warenimporteur, der ständig auf Geschäftsreise war. Madame Isabel wohnte mit ihrem Mann und dem Söhnchen René junior, den sie liebevoll „Pirulo“ nennen, in einem größeren Einfamilienhaus nebenan, in dem auch ihr Atelier untergebracht war. Sie war Hutmacherin und konnte Fraukes Hilfe in ihrem kleineren stilvollen Salon sehr gut gebrauchen, da diese beim Parisaufenthalt bei ihrer Cousine Françoise von dieser gründlich in die ersten Schritte dieses Metiers eingeführt worden war. So entwickelte sich nach und nach „Maison Isabel“ zu einer bekannten Adresse für jene gehobene Schicht der modebewussten La Pazer Damenwelt.

       * * *

      Nachdem Heikos Zug von El Alto in ausgedehnten Schleifen langsam den Abhang bis zur Estación de Trenes in La Paz überwunden hat und dort endlich im Bahnhof eingefahren und zum Halten gekommen ist, steigen er und Josef aus. Heiko verabschiedet sich von seinem Abteilgefährten, dem sympathischen Herrn Aaron Levy, mit dem er während der viertägigen Überfahrt sehr angenehme und interessante Gespräche führen konnte. Nachdem Heiko von Josef seine neue Adresse erfahren hat, tauschen die beiden Herren ihre Anschriften aus und verabreden ein baldiges Wiedersehen.

      „Langsam, langsam, lieber Amigo, du befindest dich hier immer noch auf 3.800 Meter über dem Meer. Hier ist die Luft sehr dünn und du und dein Körper müssen sich erst allmählich darauf einstellen“, mahnt Josef den voreiligen Heiko, der geschwind nach seinem Gepäck sehen will. „Außerdem ist es hier nicht üblich, sein Gepäck selbst zu tragen, dafür sind die Cargadores da. Sieh mal, dort.“ Er deutet auf einen bizarr in weißes Rohleinenhemd und Hose gekleideten, dunkelhäutigen Einheimischen – ein Indio mit einem bunten Poncho und einer mit Ohrenklappen versehenen Zipfelmütze aus braun-weiß gefärbter Lamawolle auf dem Kopf. Er trägt einen riesigen Schiffskoffer huckepack, den er mit einem grob gegerbten, rauen Rindlederseil befestigt hat, welches über seiner Brust straff verknotet ist. In raschen kleinen Schritten auf seinen mit ausgedienten Autoreifen besohlten Sandalen folgt der Lastenträger einer in einem weiten, ausladenden Faltenrock gekleideten, ebenso dunkelhäutigen Frau, die sich einen fein gewebten Umhang über die Schultern geworfen hat und einen eigenwillig geformten, festen Filzhut trägt. „Dies ist eine der hiesigen Mischlingsfrauen, eine Chola“, erklärt Josef. „Du wirst dich noch auf so manche Eigenart der heimischen Bevölkerung einstellen müssen. Aber nun lass uns erst einmal dein Gepäck holen.“

      Nachdem der Träger Heikos beide Handkoffer in dem Kofferraum von Josefs Auto – es war ein schmucker Packard Sedan Modell 1933 – verstaut und Josef ihm ein paar Münzen in die Hand gedrückt hat, fahren sie hinunter in die Stadt.

      Im Vorbeifahren gewinnt Heiko die ersten Eindrücke von seiner neuen Heimat. Verwundert nimmt er das für ihn ungewöhnliche Straßenbild wahr. Sie fahren entlang der meist ein- bis zweistöckigen Gebäude mit in allen Farben gestrichenen Wänden und er sieht eine unendliche Schar von dunkelhäutigen Passanten in ihrer außergewöhnlichen Kleidung. Fasziniert betrachtet Heiko eine asthmatisch anmutende elektrische Straßenbahn, die mühevoll eine steile Straße emporklimmt.

      Zutiefst gerührt von der Wiedersehensfreude umarmen sich kurz darauf Frauke und Heiko mit feuchten Augen. Frauke erwartet sie zur Begrüßung mit einem schmackhaften Mittagessen. Danach begleiten sie und Josef Heiko über die enge Straße hinüber in die Casa Azul, wo sie für ihn und die hoffentlich bald nachkommende Clarissa samt Kindern bereits eines der Zimmer eingerichtet haben.

       * * *

      Als der Zug in einer Höhe von etwa 4.000 Metern über Meereshöhe die Grenze zwischen Chile und Bolivien bei Charaña überschreitet, erfolgt hier die Passkontrolle. Bei mehreren Reisenden stellen sich bereits Atembeschwerden ein. Die Schaffner verteilen ein probates Mittel der Einheimischen gegen dieses Unwohlsein, den sogenannten Soroche, einen heißen Mate de Coca, ein Aufguss aus jenen Cocablättern, die von den andinen Indios ständig gekaut werden. Auch auf Oliver übt der Trunk vorübergehend eine die quälenden Bauchschmerzen lindernde Wirkung aus. Dennoch ist sein Fieber bereits auf besorgniserregende 39,7 Grad gestiegen und Dr. Blumberger greift zur Notbremse, indem er dem Jungen Chinintabletten verabreicht.

      Als der Zug gegen Abend des nicht enden wollenden vierten Reisetages in die Station von Viacha einfährt, überraschen plötzlich Heiko und Josef Clarissa und die Kinder in ihrem Schlafwagenabteil. Unendlich groß ist die Wiedersehensfreude, viele Küsse und Umarmungen folgen. Der arme Oliver kriegt in seiner Fiebertrance kaum etwas mit. Er wackelt mit dem Kopf auf dem Kissen hin und her und murmelt: „Papilein, mein lieber Papilein ist wieder da!“ Während Heiko bei seiner Familie bleibt, steigt Josef gerade noch rechtzeitig aus dem Zug und fährt mit seinem Auto geradewegs nach La Paz voraus, um für die ärztliche Versorgung


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