Cantata Bolivia. Manfred Eisner

Cantata Bolivia - Manfred Eisner


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schaffen, müsste er das Jahr wiederholen, doch das wäre nicht so schlimm! Übrigens, die Schulen hier sind ganztägig, die Kinder kommen aber zum Mittagessen nach Hause. Also von Montag bis Freitag zwei Mal täglich zur Schule und zurück. Arme Kinder!

       Und noch etwas Besonderes haben wir erfahren: Der jüdische Religionsunterricht findet in deutscher Sprache statt, da der Lehrer, Synagogenkantor Leopold Bremer, fast kein Spanisch, sondern nur Deutsch spricht. Er erteilt den Kindern auch Musikunterricht. Heiko fragte mich, ob ich denn etwas dagegen hätte, wenn Oliver am jüdischen Religionsunterricht teilnähme. Ich bin selbstverständlich damit einverstanden, schließlich kann es nicht schaden, wenn der Junge von Anfang an mit dem Alten Testament vertraut ist – ich wünschte, ich hätte auch eine solche Gelegenheit gehabt. Obwohl Heiko nach wie vor die Zugehörigkeit zu einer Religion kategorisch ablehnt, hat er ebenfalls nichts dagegen, denn er meint, auch dies gehöre unbedingt zur Allgemeinbildung.

       Übrigens, für Lissy haben wir mit Frau Adrians Hilfe einen Platz in einem Kindergarten bekommen. Dieser gehört zu einem Waisenheim. Sinnigerweise trägt es den Namen „La Gota de Leche“ – „Der Milchtropfen“. Allerdings ist es etwas weit von unserer Casa Azul entfernt, befindet sich aber gleich neben der Endstation der Straßenbahnlinie Nr. 2, die zudem direkt an unserer Hauptstraßenecke hält. Ich habe erfahren, dass man hier für Kleinkinder vergünstigte Zehnerkarten erhält. In den ersten Wochen werde ich Lissy aber persönlich begleiten.

       Die zweite gute Nachricht betrifft Heikos Arbeit. Da das Vorhaben mit dem eigenen Betrieb nur schleppend voranschreitet, hat Heiko mit dem bolivianischen Patrón einer hiesigen, mittelgroßen Bäckerei, Señor Espinoza, vereinbart, bei diesem als angestellter Bäckervorarbeiter anzufangen. Nach und nach will er dann mit dem Backen von deutschen Brotsorten beginnen und erst einmal sehen, wie diese einschlagen, bevor er und Josef in ein teureres, eigenes Unternehmen investieren. Die Bezahlung ist alles andere als üppig, denn die hiesigen Arbeitslöhne sind eher Hungerlöhne, aber es macht ihm nichts aus, sagt Heiko, es ist wenigstens ein Einstieg und bringt zumindest ein wenig Taschengeld.

       Um die unter der hiesigen Bevölkerung bestehenden, sehr krassen Einkommensunterschiede wenigstens optisch ein wenig zu kaschieren, müssen alle Schülerinnen und Schüler an den öffentlichen Primarschulen im Unterricht einfache, weiße Kittel tragen. Also sind auch wir verpflichtet, unsere Kinder hiermit ausstatten.

       Frauke machte den Vorschlag, Josef solle Oliver, Lissy und mich mit dem Auto zum Bekleidungsladen des Herrn Simon Dziubeck fahren. Er ist ein polnischer Jude, mit dem sie kurz nach der Ankunft in La Paz Bekanntschaft gemacht haben. Zum großen Spaß der Kinder fuhren wir also in Josefs Limousine in die Stadt. Als wir die Flaniermeile, den Prado, passierten, sagte Josef zu Oliver: „Sieh, dort, das gelbe Haus, darin befindet sich deine Schule.“ Im Vorbeifahren fielen mir das emporragende Gebäude der Tageszeitung „La Razón“ sowie das beachtenswerte Kolumbus-Monument aus weißem Marmor auf, das Heiko neulich bei einem Gespräch erwähnte.

       Am Ende des Prados fuhren wir noch etwa 800 Meter weiter geradeaus, dann kamen wir an der mächtigen Barockkirche San Francisco an und bogen nach links ab in die steil ansteigende Calle Sagárnaga, die inmitten eines Viertels liegt, das fast ausschließlich von Indios bewohnt wird. Josef musste im Schritttempo fahren, weil die große Zahl Fußgänger nicht nur auf den Gehwegen, sondern vorwiegend mitten auf der Fahrbahn lief, offensichtlich total unbekümmert – der Autoverkehr habe gefälligst zu warten!

       Herr Dziubeck empfing uns sehr freundlich am Eingang seines Geschäftes, ein unendlich langer Gang, an dessen beiden Seiten Unmengen von Anzügen und anderen Kleidungstücken an Garderobenhaken und Bügeln hingen. Josef und der Ladeninhaber unterhielten sich angeregt auf Polnisch, was den Kindern sonderbar vorkam. Ich musste ihnen den Grund erklären. Dann wandte sich der nette Herr Dziubeck Oliver und Lissy zu und meinte: „Dann woll’n wir mal seihen, ob wir ebbes für die siessen Kinderlach finden.“ Wir folgten ihm bis ans Ende seines Gewölbes, wo er einem Regal einen Stapel weißer Schulkittel entnahm. Die Kinder probierten herum, bis beide je zwei passende Stücke gefunden hatten. Als ich diese bezahlen wollte – Heiko hatte mir Geld mitgegeben –, sagte Herr Dziubeck: „Nein, nein, behalten Sie nur Ihr Geld. Is far mir a Mitzwe. Es soll sein mit Masel, damit die siessen Kinderlach a gite Shul’ haben werden.“

       Ich dankte ihm sehr gerührt. Auch die Kinder bedankten sich, Lissy drückte ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Ich habe mich auch redlich bemüht, hier die halb deutsch, halb jiddische Ausdrucksweise des Herrn Dziubeck wiederzugeben.

       * * *

      Als sie sich im Auto auf dem Nachhauseweg befinden, fragt Clarissa Josef, ob er wüsste, was Herr Dziubeck mit dem ihr unbekannten Wort „Mitzwe“ gemeint habe. „Ich bin mir ja auch nicht so sicher, aber sinngemäß, muss es eine religiöse Vorschrift der Juden sein, etwas Gutes zu tun – oder so ähnlich. Simon ist ein sehr religiöser Mensch, und er ist stark in der jüdischen Gemeinde engagiert. Ach ja, ich muss noch mit Heiko sprechen. Dziubeck hat mich nämlich heute gefragt, ob die Bäckerei Espinoza nicht vielleicht die La Pazer Juden an jedem Freitagnachmittag mit Schabbesberches, den rituellen, mit Mohnsamen bestreuten Sabbat-Brotzöpfen, beliefern kann. Er würde ihm hierfür das entsprechende Backrezept beschaffen. Ich denke, daraus könnte ein erträgliches Zusatzgeschäft für die Bäckerei werden. Wenn Heiko es richtig anstellt, müsste er an diesem neuen Umsatz finanziell beteiligt werden.“

      Am nächsten Montag begleitet Heiko seinen Sohn auf dessen ersten Schulweg. Sein „Onkel“ Josef hat Oliver zur Einschulung einen schönen Lederranzen geschenkt, den er stolz auf dem Rücken trägt. Die in Deutschland zu dieser Gelegenheit üblichen großen, bunten Schultüten sind in Bolivien leider unbekannt. Von da an gehen Oliver und Mitbewohner Alfred Kahn gemeinsam zwei Mal täglich zu Fuß zur Schule und wieder nach Hause. Die kleine Lissy hat es da besser, sie darf mit der Straßenbahn zum Kindergarten und von dort wieder nach Hause fahren.

       3. Geschichtliches

      Allabendlich, nachdem sie ihr bescheidenes Abendbrot verzehrt haben, sitzen die älteren Bewohner der Casa Azul beisammen und unterhalten sich über die Themen des Tages. Vor allem natürlich über den schlimmen Kriegsalltag in Europa und Afrika. Mit tiefem Erschrecken hören sie die Berichte über die furchtbare Lage der verfolgten Juden, nunmehr auch in den besetzten Gebieten, sowie die unendlich scheinende Siegeskette Nazi-Deutschlands gegen den gesamten Rest der zivilisierten Welt. Dabei ist es meistens Heiko, der, wenn die Kinder im Bett sind, dem Rest der Anwesenden die tristen Neuheiten aus den Zeitungen „La Razón“ und „El Diario“ in Übersetzung vorträgt. Um Heiko ein wenig mehr Licht für das Zeitunglesen zu schaffen, wurde anstelle der 25-Watt-Funzel über seinem Platz am Esstisch eine 40-Watt-Leuchte in die Fassung eingeschraubt.

      Im Laufe einer der auf Heikos Nachrichtenvortrag folgenden angeregten und oft heiß ausgetragenen Diskussionen, die sich nicht zuletzt mit den tagtäglichen Unannehmlichkeiten und den unerklärlichen Zuständen befassen, die man hierzulande zu erleiden glaubt, stellt plötzlich Herr Ullmann, dem die Hausgenossen hinter dem Rücken wegen seiner unbeirrbaren Suche nach einer Lösung für eine Berechnung der Kreis-Quadratur insgeheim den Beinamen „el Judío matemático“ (der mathematische Jude) verliehen haben, die folgende Frage: „Was wissen wir überhaupt über Bolivien, dieses Land, in dem wir in der größten Not Aufnahme fanden und an dem die meisten von euch so viel auszusetzen haben und sich beklagen? Warum ist hier so vieles anders, so ungewohnt für uns Mitteleuropäer?“

      Darauf folgt langes Schweigen.

      Schließlich bemerkt Max Sturm: „Sie haben recht, Herr Ullmann, Sie haben ja so recht. Überhaupt nichts habe ich von diesem Land gewusst, bevor wir hier ankamen, und viel mehr habe ich seitdem auch nicht erfahren. Uns ist doch vieles, über das wir uns jeden Tag wundern, unbekannt und unverständlich, von der uns bisher fremden Sprache dieser stets Coca kauenden Indios ganz abzusehen. Viele sprechen ja nicht einmal Spanisch, sondern ihre Aymara-Ursprache. Wieso eigentlich?“

      „Nun ja, vieles wäre uns sicher etwas verständlicher,


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