Cantata Bolivia. Manfred Eisner

Cantata Bolivia - Manfred Eisner


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Mangels eigener Radioempfänger versammeln sich die Menschen täglich kurz vor zwölf Uhr mittags an der Pracht-Avenida 16. de Julio, allgemein als Prado bekannt, um den über Lautsprecher verbreiteten Weltnachrichten des Staatssenders Radio Illimani zu lauschen.

      So erfahren sie nach und nach von den letzten furchtbaren Geschehnissen: die Teilung Frankreichs, Hitlers Befehl zum verstärkten Angriff auf Großbritannien durch Marine und Luftwaffe, der darauf folgende mörderische Luftkrieg über England, die Battle of Britain, die in dem Abschuss von achtundfünfzig Luftwaffen-Bombern gipfelt, die gezielte Zerstörung der deutschen See-Transportflotte durch die RAF-Flieger, die dadurch Hitlers geplante „Operation Seelöwe“ zum Landangriff auf England erfolgreich zunichtemachen, der Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und dem kaiserlichen Japan, die barbarische Auslöschung der Stadt Coventry durch die Bomben der Nazi-Luftwaffe und nicht zuletzt die bestialischen Massendeportationen der inzwischen völlig entrechteten jüdischen Bevölkerung aus allen von Deutschland besetzten Gebieten und deren systematische Ermordung in den dafür besonders eingerichteten „Endlösungs“-Konzentrationslagern.

      Gelegentlich kommt es anlässlich der Nachrichten zu unangenehmen Begleitszenen. Offensichtlich haben es einige nazistisch eingestellte Deutsche darauf angelegt, die meist jüdischen Zuhörer zu provozieren und zu verhöhnen. Bei der Verkündigung deutscher Siege brechen sie in Jubelgeschrei aus und brüllen: „Sieg Heil, Sieg Heil! Juda, verrecke! Fuera con los Judíos (Raus mit den Juden)!“ Als sich dieses einige Male wiederholt und die so verunglimpften Juden, mit Schlagstöcken bewaffnet, die Provokateure schlagartig in die Flucht treiben, enden diese Szenen so rasch, wie sie begonnen haben.

      Viele Deutsche sind bereits nach dem Ersten Weltkrieg in Bolivien eingewandert und haben sich hier eingerichtet. Einige von ihnen konnten rasch Fuß fassen und etablierten sich als erfolgreiche Importeure oder Geschäftsinhaber, vorwiegend in La Paz, aber auch in Cochabamba und Oruro sowie im Osten der Republik in der an Argentinien angrenzenden Provinz Santa Cruz, wo große Landwirtschaftsgüter mit vorwiegend Viehwirtschaft entstanden.

      Ebenso wie zahlreiche, aus dem Libanon eingereiste arabische Geschäftsleute integrieren sich diese ausländischen Personenkreise meist durch Heirat mit kreolischen Nachkommen aus den hiesigen Oberschichten rasch in die bolivianische „alta sociedad“, allein maßgeblich für Politik und Wirtschaft des Landes. Für die Indio- oder Mestizen-(Cholo-)Schichten, die ja eigentlich die Bevölkerungsmehrheit darstellen, ist darin kein Platz vorgesehen. Gemessen an der Einwohnerzahl von 3,5 Millionen Bolivianern zählt diese Oberschicht gerade mal 200.000 Menschen, sogenannte „blancos“ (Weiße). Die 2,5 Millionen Indios vegetieren am Rande und leben zumeist auf dem Lande in ihren armseligen, mit Stroh gedeckten einfachen Adobehäusern fast ausschließlich von ihrer Eigenversorgung, sofern sie nicht durch Fronarbeit in den Zinnminen oder Großlatifundien erbarmungslos von ihren Patrones ausgebeutet werden. Gemäß den amtlichen Verlautbarungen nehmen sie keinen Anteil an der Gesellschaft, sie tragen ja nicht einmal zum Bruttosozialprodukt des Landes bei – weder produzieren noch konsumieren sie. Und das war’s.

      Aber zurück zu den Deutschen und deutschstämmigen Bolivianern. Naturgemäß sind die meisten von ihnen, schon durch die Verbundenheit mit der Heimat, besonders deutschnational eingestellt. Frenetisch bejubeln sie jeden militärischen Erfolg Nazi-Deutschlands, ihren Antisemitismus haben viele von ihnen bereits über die Meere mit hergebracht. Auch sind sie sehr aktiv für den Proselitismus des neuen nationalsozialistischen Gedankengutes, gründeten sogar schon 1934 eine bolivianische NSDAP und missbrauchten die von ihnen mit deutschen Lehrkräften betriebenen Schulen, wie das Colegio Alemán in La Paz und Cochabamba, zur Indoktrinierung der dort lernenden deutschen wie auch der bolivianischen Kinder und Jugendlichen mit ihrer betont nazistischen und antisemitischen Propaganda.

      Der Wahrheit zuliebe muss erwähnt werden, dass dankenswerterweise nicht alle Deutschen im Lande diese menschenverachtende Einstellung haben. Zahlreiche ehrbare deutsche Demokraten, die ebenfalls vor der Naziverfolgung geflüchtet sind, naturgemäß vorwiegend links oder liberal eingestellte Personen, sind nicht gewillt, dieser unsäglichen Einstellung der Nazianhänger Folge zu leisten. Als Gegengewicht gründen sie, analog zum österreichischen D.A.Ö., den D.A.D.-Verein – „Das Andere Deutschland“ – in Anlehnung an eine ähnliche Bewegung und Wochenzeitung, die für „entschieden republikanische Politik“ eintrat, 1925 in Berlin gegründet, aber bereits nach der Machtergreifung von den Nazis verboten und damit im Deutschen Reich mundtot gemacht.

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      „Nach der Eroberung Mittel- und Südamerikas erließ der spanische König Carlos V um das Jahr 1540 die Gesetze ‚Leyes de Indias‘ und gründete in dieser Region sein Vizekönigreich Perú.“ Mit diesen Worten setzt Heiko eine Woche später seine Vortragsreihe für die Bewohner der Casa Azul fort.

      „Jahre später errichtete König Felipe II als Berufungsgerichtsbarkeit die Real Audiencia de Charcas mit Sitz in La Plata, dem heutigen Sucre, ein riesiges Gebiet von ‚500 leguas a la redonda‘, ein Umfang, der heute etwa 5,8 Millionen Quadratkilometern entspricht und ursprünglich auch jenes Gebiet war, das Bolivien bei der Republikgründung für sich beanspruchte. Es erstreckte sich vom peruanischen Cuzco im Norden über das argentinische Tucumán und das heutige Paraguay bis nach Buenos Aires im Süden. Im Westen wurde es auf Höhe der Atacamawüste in Chile – die einige von Ihnen bei Ihrer Herreise wohl oder übel erleben durften – durch den Pazifischen Ozean begrenzt, während es im Osten bis an die Grenze zu Brasilien reichte. Später wurden die Regionen von Tucumán und Paraguay durch Gründung der Königlichen Audienz von Buenos Aires wieder davon abgetrennt.

      Nach und nach erforschten zahlreiche spanische Expeditionen das Territorium, hier und dort wurden Siedlungen errichtet und Städte wie Oruro und Santa Cruz gegründet. Vor allem waren es aber die riesigen, 1545 entdeckten Silbervorkommen im Cerro Rico, dem reichen Berg von Potosí, die die größte Bedeutung in der lateinamerikanischen Ökonomie spielten und zur Gründung der gleichnamigen Stadt führten. Sie zählte bereits 1611 ca. 160.000 Einwohner und war damit die fünftgrößte Großstadt der damaligen Welt. Die benachbarte kleinere politische Hauptstadt Charcas, klimatisch weit günstiger, weil fast 1.800 Meter tiefer gelegen, beherbergte zu jener Zeit vorzugsweise die reichen Silberbarone und firmierte deshalb sinngemäß bald in ‚La Plata‘ (‚Das Silber‘) um.

      Die spanische Krone verdankte im 16. und 17. Jahrhundert dieser skrupellosen Ausplünderung Potosís den größten Teil ihres jährlichen Staatseinkommens. Das Silber, das die versklavten Indios mühevoll und mit blutigen Händen aus den Bergwänden kratzten, nährte Europas Geldwirtschaft. Hunderttausende Indios kamen wegen der ihnen aufgezwungenen inhumanen Fronarbeit in dem fast 5.000 Meter hoch gelegenen Bergwerk ums Leben, während die Kolonialelite in La Plata in Saus und Braus lebte. Auf den Rücken von Mulas, den Mauleseln, beförderte man Abertausende von ein Kilogramm schweren, grob gegossenen Silberbarren bis zum Hafen von Callao. Die vollgeladenen Schiffe transportieren diese entlang der pazifischen Küste bis nach Panamá. Muli- und Eselkaravanen durchquerten dann mit der kostbaren Ladung den Isthmus – hinüber bis zu den Häfen von Portobello oder Nombre de Diós, von denen aus dann die Seereise der Beute nach Spanien folgte. Hiermit konnten Felipe II und alle seine Nachfolger ihre europäischen Kriegskampagnen finanzieren.

      Als der Conquistador und bis dahin amtierende Gouverneur des Vizekönigreiches, Franciso Pizarro, in Lima verstarb, entfachte zwischen dessen nächsten Verwandten und der konkurrierenden Familie Almagros eine blutige Nachfolgefehde. Pizarro hatte einige Jahre vorher seinen ehemaligen Mitstreiter, Diego de Almagro, wegen Ungehorsams und Befehlsverweigerung köpfen lassen. Um dem langen, sinnlosen Bandenkrieg ein Ende zu setzen, wurde der Hauptmann Alonso de Mendoza beauftragt, einen neuen Ort der Versöhnung als Verbindung zwischen den sich bekriegenden Städten Oruro und Lima zu schaffen. So gründete der Hauptmann am 20. Oktober 1548 Nuestra Señora de La Paz – Unsere Liebe Frau des Friedens – als Symbol der Befriedung zwischen Pizarristen und Almagristen. Da aber der ursprüngliche Gründungsort in Laja wegen der dort ständig wehenden, kalten Andenwinde zu ungemütlich war, verlagerte Alonso de Mendoza wenig später die neue Stadt in eine mildere, windgeschützte und zudem fruchtbare Talsenke am Ufer des – damals noch sauberen – Flusses Choqueyapu.

      Das Wappen dieser Stadt trägt eine Sentenz in Versform,


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