Cantata Bolivia. Manfred Eisner

Cantata Bolivia - Manfred Eisner


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von bis zu 6,00 Bolivianos pro Mohnzopf von je einem Kilogramm geeinigt habe. Eine Umfrage hat zudem ergeben, dass anfänglich vierzig Gemeindemitglieder sich verpflichten würden, allwöchentlich je eines der Zopfbrote abzunehmen, weitere fünf mehrköpfige Familien sogar je zwei. Die Menge, die Aaron Levy anfänglich genannt hat, war also realistisch. Mit diesen Angaben rechnet Heiko noch einmal alle Herstellungskosten zusammen. Damit spricht er seinen Chef abermals an: „Also, Don Elías, hier ist meine Kostenaufstellung. Wir sollten den Preisvorschlag von 6,00 Bolivianos annehmen, wobei ich einen Gesamtpreis von 11,00 Bolivianos für die Abnehmer von zwei Broten vorschlage. Die 50 Stück kosten uns summa summarum nicht ganz 200,00 und wir könnten wöchentlich 295,00 Bolivianos durch den Verkauf erzielen. Davon bitte ich Sie, mir eine Vermittlerprovision von 30,00 Bolivianos zuzugestehen, dann verbleiben der Firma immer noch satte 65,00 Bolivianos Reingewinn. Das wäre prozentual doch reichlich mehr, als wir heute an den einfachen Marraquetas und Sarnitas verdienen, nicht wahr? Übrigens glaube ich, dass wir noch viel mehr Zöpfe bei weiteren Brotläden in der Stadt absetzen könnten, würden wir sie dort anbieten.“

      Don Elías’ tiefe Stirnfalten ziehen sich bei Heikos Erwähnung der beanspruchten Provision bedrohlich zusammen, entspannen sich aber ebenso rasch, als er von dem guten Erlös erfährt, den der Verkauf der Sabbatzöpfe verspricht. Es folgt eine längere Denkpause, dann mustert er Heiko und sagt: „De acuerdo, einverstanden! Aber sagen wir zunächst einmal für zwei Monate zur Probe. Dann erfahren wir, ob deine Berechnungen auch stimmen.“ Im Gegensatz zu Heiko, der die Warenkalkulation noch aus seiner Marschländer Backwarenfabrik in Oldenmoor aus dem Effeff beherrscht, hat Don Elías kaum Erfahrung in dieser Materie, denn sowohl Rezeptur und Abgabegewicht als auch Verkaufspreise für die gängigen Brote sind amtlich vorgeschrieben. Wenn es wegen der Inflation mit dem Erlös der Bäcker enger wird, reagieren diese zunächst stets mit dem Knapsen am Gewicht der Backwaren. Werden schließlich die Marraquetas allmählich kleiner und ist die Regierung nicht bereit, den Verkaufspreis des Brotes dem Währungswertverfall anzupassen, nimmt üblicherweise die Bevölkerung diese Erscheinung als Omen dafür wahr, es könne wohl bald wieder zu einer Revolution mit Umsturz von Präsident und Regierung kommen.

      Als es Jakob Kahn tatsächlich gelungen ist, einen Mohnsamenlieferanten unter den libanesischen Kaufleuten der Stadt aufzutreiben, der zudem Sesamkörner, Datteln und ähnliche Waren aus dem Nahen Osten im Angebot führt, machen sich Heiko und Fränkel Gottlieb mit einem der Gehilfen am nächsten Freitagmorgen gemeinsam an die Arbeit. Unter Fränkels Regie wird zunächst das Wasser auf etwa 40 Grad Celsius erwärmt und in den Kessel der museumsreifen AlexanderwerkHubknetmaschine gefüllt. Laut ächzend setzt dessen Motor Kessel und Rührwerk in Bewegung. Nach der zerbröselten Hefe werden Honig, Maisöl, verquirlte Eier und Salz nacheinander im Wasser untergeschlagen. Schließlich wird das Mehl portionsweise hinzugegeben und untergemischt. Dann wird der Teig so lange geknetet und der Rest des Mehls zugefügt, bis dieser elastisch und nicht mehr klebrig ist. Die Teigmasse wird schließlich in größere Holzmollen überführt und mit feuchten Tüchern abgedeckt. Während der folgenden 90-minütigen Ruhezeit verdoppelt sich das Teigvolumen.

      Dann knetet Fränkel noch einmal tüchtig den Teig mit den Händen und portioniert anschließend mit geübtem Griff die Teigmengen. Er rollt anschließend die Portionen zu Strängen von eineinhalb Zentimetern Durchmesser. Aus je drei dieser Stränge dreht er geschickt die Zöpfe, die alle gleichmäßig groß sind. Sie werden auf geölte Bleche gelegt und ruhen erneut eine Stunde unter feuchten Tüchern, wobei sie abermals aufgehen. Dann bepinselt Heiko die Zöpfe mit verquirltem Ei und bestreut sie gleichmäßig mit Mohnsamen. Das Thermometer am inzwischen mit Holz vorgeheizten, typischen irdenen Backofen zeigt die vorgeschriebenen 190 Grad Celsius an, als der Gehilfe die Backbleche mit den Berches für etwa 40 Minuten einschiebt.

      Gespannt warten der inzwischen hinzugekommene Don Elías sowie die gesamte Mannschaft auf das Ergebnis. Mit begeisterten Ausrufen und Applaus bestaunen sie die goldgelben und stark duftenden Brote, als diese nach dem Backen wieder zum Vorschein kommen. „Vorsicht“, mahnt Fränkel, „die müssen erst eine Stunde abkühlen, bevor wir sie anschneiden, sonst fallen sie zusammen!“ Behutsam überträgt er die Zöpfe auf Drahtroste. Schließlich, als sie abgekühlt sind, gebührt es Fränkel Gottlieb, eine Challah anzuschneiden, nachdem er die gebotene Bracha – den Segen über das Brot – auf Hebräisch heruntergemurmelt hat. Gerührt und freudig probieren Don Elías, seine Ehefrau Doña Silvia und die ganze Belegschaft die gut schmeckenden Zopfbrotscheiben. Sie gratulieren Heiko und Fränkel zu dem gelungenen Experiment. Dann laden sie die Mohnzöpfe in mit Pergamentpapier ausgeschlagene Holzkisten um und verladen diese auf die klapprige Chevrolet-Camioneta. Heiko, der inzwischen auch den hiesigen Führerschein gemacht hat, bekommt den Schlüssel für den Pickup und fährt zusammen mit Fränkel rasch zur Synagoge, denn es ist schon fast vier Uhr nachmittags und die Sabbatbrote müssen vor Beginn des Vorabends abgeliefert worden sein. Man hat vereinbart, dass die Bezahlung dieser Lieferung am darauf folgenden Mittwoch erfolgen soll, wenn alle Abnehmer bezahlt hätten, denn am Shabbes dürfe man kein Geld berühren, geschweige denn welches mitführen.

      Tatsächlich erscheint am Mittwoch Jankele Bauchwitz, der Shammes – Synagogendiener – mit einem Umschlag, in dem sich die vereinbarten 295,00 Bolivianos befinden, für die er an der Kasse von Doña Silvia eine Quittung erhält. Dann meldet er Heiko, der „Rebbe sugt“, man möge bitte zum nächsten Shabbes 53 Berches liefern, da einige Gemeindemitglieder erst nachträglich von dieser Gelegenheit erfahren hätten. Heiko übersetzt seinem Chef die frohe Botschaft. Darauf zählt Don Elías die vereinbarten 35 Bolivianos ab und überreicht sie mit den Worten: „Alle Achtung, lieber Heiko, die hast du dir wahrlich verdient!“

       * * *

      Als Josef und Frauke das etwa 280 Hektar große Anwesen ihrer Hacienda Guayrapata erwerben, wird auch diese – wie in 95 Prozent der in Latifundien aufgeteilten Landwirtschaftsflächen Boliviens üblich – noch mit dem aus der Zeit der spanischen Kolonialzeit stammenden „pongueaje“-System bewirtschaftet. Die Pongos, völlig mittellose, in der Agrarwirtschaft tätige Indios werden gnadenlos ausgebeutet und sind durch sklavenähnliche Verhältnisse nahezu lebenslang an ihre herzlosen Patrones gebunden. Gnädig überlassen die Landeigentümer jeder Pongofamilie ein kleines Stück Land, auf dem sie sich selbst die karge, strohgedeckte und irdene Adobehütte errichten und etwas Gemüse und Coca für den Eigenbedarf anbauen dürfen. Etwaige Überschüsse werden vom Patrón zum miserablen, niedrigsten Preis übernommen, während den Pongos ergänzende Lebensmittel und Bedarfsgegenstände überteuert zur Verfügung gestellt werden, so dass die armen Teufel stets tief verschuldet bleiben. Drei Tage in der Woche leisten diese Männer jeweils bis zu zwölf Stunden lang den unbezahlten Frondienst für den Herrn als Gegenwert für das ihnen überlassene Stückchen Land.

      Als Frauke und Josef an ihrem vom Vorbesitzer übernommenen Personal diese menschenverachtenden und für ihren Geschmack absolut unzumutbaren Zustände wahrnehmen, überlegen sie, wie sie dies umgehend ändern können. Sie hören sich um und erfahren, dass es in Huatajata, am Ufer des Titicacasees, seit 1911 einen von einer Mission der kanadischen Baptistenkirche realisierten Versuch gibt, eine traditionelle Hacienda in ein menschliches Unternehmen zu verwandeln. Sie fahren nach Huatajata und treffen dort auf Bruder Abelardo, einen einheimischen Missionsmitarbeiter, der an der Umgestaltung des Anwesens maßgeblich beteiligt ist.

      „Ich finde es sehr löblich von Ihnen, Señor und Señora Rembowski, dass Sie sich für ein so nobles Vorhaben engagieren, nämlich eine Vermenschlichung der Arbeitsbedingungen für die armen Pongos in Angriff zu nehmen. Bedenken Sie dabei aber bitte, dass Sie mit Ihrer Aktion ein archaisches und bei allen Betroffenen tief verwurzeltes System angreifen. Es wird Ihnen schwerfallen, vor allem das Vertrauen der inzwischen von den Weißen über Jahrhunderte geschundenen und gedemütigten Indios zu gewinnen. Insbesondere machen Sie sich damit Ihre Nachbarn, die Hacenderos der Umgebung, ganz sicher zu erbitterten Feinden. In deren Augen verletzen Sie ein heiliges Tabu und begehen einen unverzeihlichen Frevel, müssen Ihre Nachbarn doch befürchten, dass die neu gewährte Freiheit für ihre Peones – ihre eigenen Pongos – ein schlechtes Beispiel sei. Ich weiß, wovon ich rede. Nicht nur einmal versuchte man, uns mit übelsten Mitteln – einmal wurde sogar ein Feuer gelegt – von unserem Vorhaben abzubringen. Glauben Sie mir, machen Sie sich auf alles gefasst!“

      Während


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