Cantata Bolivia. Manfred Eisner
um den Einlass zu öffnen. Die beiden Mulis trotten in den Hof. Frau Adler kann gerade noch Lissy auffangen, die total übermüdet vom Sattel rutscht und auf der Stelle einschläft.
Erst viele Stunden später, mitten in der Nacht, trifft die Maultierkarawane mit den restlichen Reisenden auf Guayrapata ein. Alles, was hier oben auf angenehmen 1.700 Metern über Meereshöhe benötigt wird, wird auf diesem soeben beschriebenen „camino de mulas“ heraufbefördert. Ebenso werden alle Erzeugnisse, die auf der Hacienda produziert und zum Verkauf nach La Paz befördert werden sollen, dreimal in der Woche auf Mulikruppen hinunter zur Casa Blanca gebracht.
Am nächsten Morgen sitzen die Kellers mit Josef und seiner Frauke sowie den Familien Kahn und Kovacs fröhlich beim zünftigen Frühstück am großen Esstisch. Alle anderen sind längst an ihre Arbeit gegangen. Aus den beiden großen Fenstern blickt man auf den mit glatten, dunklen Schieferplatten gepflasterten und in dieser Gegend allgegenwärtigem Hof hinaus. Dieser läuft an der gesamten Hausfront entlang und diente bislang zur Trocknung der Coca-Blätter. Eine fast zwei Meter hohe Mauer, von deren Zinnen spitze Glasscherben bedrohlich emporragen, umrahmt die Trocknungsfläche.
Vom Personal bekommen sie zunächst nur Violeta zu Gesicht, eines der Küchenmädchen, das ihnen die Kannen mit frischem Kaffee, Milch und Kakao an den Tisch bringt. Dazu gibt es große Schüsseln mit Schnittkäse, Quark, Butter sowie Tomaten, Radieschen, Gurken, Brombeer- und Guayabamarmelade – alles Eigenprodukte der Hacienda – zur Auswahl. Heiko blickt allerdings skeptisch auf die bereits angetrockneten Marraqueta-Brotscheiben.
Josef bemerkt es sofort und erklärt mit einem bedauernden Lächeln: „Ja, es tut mir leid, lieber Heiko. Zum Backen sind wir auf Guayrapata bedauerlicherweise noch nicht gekommen, weil der uralte Backofen total hinüber ist. Könntest du vielleicht ...“
„Aber logisch, Josef, ich schaue mir den Ofen sofort an. Kann doch nicht angehen, dass hier, wo es zwei gestandene Bäcker gibt, kein frischeres Brot auf den Tisch kommt als dieses, nicht wahr?“
Nachdem alle gesättigt sind, verlassen sie gemeinsam das alte Gebäude. Heiko, Josef und Jakob Kahn gehen, von zwei Schäferhunden begleitet, um den lang gezogenen L-förmigen Bau herum. Sie kommen an einem leeren Schwimmbecken vorbei, das durch die riesige Krone eines mächtigen Chirimoyabaumes fast voll überdeckt wird. Daneben befindet sich auf einer kleinen Lichtung der ruinöse, irdene Horno. Dessen marode Lehmkuppel ist längst in sich zusammengestürzt, die rostige Ofentür hängt kläglich nur an einer Angel herab. Zusammen mit dem inzwischen hinzugeeilten Iraya, einem groß gewachsenen, sympathischen Indio-Landarbeiter, der Pike und Schaufel mitgebracht hat, machen sie sich ans Werk. Josef hat inzwischen eine Schubkarre herbeigeholt, in die die Reste der nach und nach bis zur Grundmauer abgetragenen Lehmglocke auf einem daneben liegenden Haufen abgeladen werden. Zufrieden stellen sie fest, dass sowohl Fundament als auch Backfläche des Ofens, die aus gebrannten Ziegelsteinen bestehen, fast unversehrt und noch durchaus brauchbar sind. Jakob Kahn trägt die demontierte eiserne Ofentür samt Zarge und Aufhängung ins Magazin. In der kleinen Werkstatt wird er versuchen, alles zu reinigen und wieder instand zu setzen.
Inzwischen steht Iraya ein Helfer namens Santiago zur Seite. Er ist von kleiner Statur, wirkt aber sehr robust. Er bringt neben seinem Werkzeug noch ein Bündel trockener Strohhalme sowie eine hölzerne Schablone für Adobes – jene irdenen, sonnengetrockneten Bausteine – mit. Beide machen sich nun daran, den abgetragenen Erdhaufen mit Piken und Schaufeln zu zerstoßen. Die zerkleinerten Erdbrocken werden durch ein Maschendrahtgestell gesiebt und abermals zerkleinert, bis sie die geeignete Korngröße aufweisen. In dem Haufen zerkleinerter Erde formen sie ein Loch, in das sie Wasser hineingießen. Zu Heikos Verwunderung stampfen die beiden Indios mit nackten Füßen die Erdmasse kräftig zu einem schlammigen Brei zusammen, in dem dann gebrochenes kurzes Stroh untergemischt wird. Der so angemachte Lehm wird ebenfalls mit den Füßen in die doppelte Schablone fest hineingestampft. Schließlich wird die Oberfläche mit wenig Wasser geglättet. Während der eine Indio vorsichtig die Schablone anhebt und beiseite legt, portioniert der andere die nächste Füllung mit der Schaufel. Am Ende liegen etwa achtzig Stück dieser Adobes reihenweise nebeneinander.
„Jetzt müssen wir warten, bis der Lehm getrocknet ist, erst dann können sie gewendet werden“, erklärt Josef. „In etwa drei bis vier Tagen können wir mit dem Mauern des Ofens beginnen.“ Er wendet sich an Iraya und Santiago, sagt: „Buen trabajo“ – gute Arbeit – und reicht jedem ein paar Scheine, die sie mit einem breiten Lächeln und ihrem „Muchas gracias, patrón“ quittieren. Für ihre Verhältnisse haben sie sich gerade ein kleines Vermögen zuverdient.
Während die Männer mit dem Wiederaufbau des Backofens beschäftigt sind, führen Frauke, Moses, Alfred und Thea die Neulinge Clarissa, Oliver und Lissy herum und erkunden gemeinsam das Anwesen. In der Casa Vieja – dem alten Haciendahauptgebäude – befindet sich neben dem großen Speiseraum auch die Küche. Hier wird auf dem mit Holz befeuerten und aus Ziegeln und Lehm gemauerten, mehrflammigen Herd gekocht. Neben größeren eisernen Töpfen benutzt man auch kleineres Kochgeschirr aus gebranntem Ton. Besonderen Spaß verursachen Clarissa der Anblick der vielen, offensichtlich selbst grob geschnitzten hölzernen Kochlöffel und vor allem der stark verrußten Töpfe, die – im Gegensatz zu ihrer Küche in der Casa Azul – hier wohl niemals gescheuert werden. „Muss ich mir unbedingt merken“, sagt sie sich leise lächelnd.
Im Hause befinden sich neben dem geräumigen Magazin mit integrierter Werkstatt, in dem Vorräte, aber auch Saat, Werkzeug und Sattelwerk gelagert werden, mehrere Stuben im Obergeschoß. Hier haben sowohl ein Teil der Belegschaft als auch die Ferienkinder ihre Schlafräume. An der Rückseite des Gebäudes, diskret hinter einem dicken Vorhang verborgen, befindet sich das Plumpsklo – „unser geräumiger Mehrsitzer“, wie es spaßig genannt wird. Das ebenso geräumige Wasch- und Duschhaus für die Bewohner ist in einem getrennten Bau untergebracht. Im kleineren, daneben liegenden Raum hat man die Pulpería, einen kleinen Kaufladen, eingerichtet. Er öffnet nur mittwochs und samstags jeweils von 17:00 bis 19:00 Uhr. Hier erhalten sowohl die eigenen Landarbeiter als auch die der benachbarten Haciendas die benötigten Grundlebensmittel und Bedarfsgegenstände: Charque, das platte, steinharte, luftgetrocknete Rindfleisch, Milchpulver, Schweineschmalz, Mehl, Zucker, getrocknete Erbsen und Bohnen, Reis und Nudeln. Darüber hinaus gibt es hier Macheten, Zündhölzer, Zigaretten, Kerzen, Petroleum und Brennspiritus – alles zu sehr günstigen Preisen. Viele Indios nehmen regelmäßig einen Fußmarsch von bis zu drei Stunden in Kauf, um sich hier einzudecken, da sie sonst diese Artikel nur vom eigenen Patrón zu exorbitant überhöhten Preisen erstehen können. Freunde hat sich Josef unter den benachbarten Hacenderos mit seiner preiswerten Pulpería allerdings nicht gemacht, da diesen dadurch ein bisher einträgliches Einkommen abhandengekommen ist. Sein Glück ist es, dass diese fünf oder sechs stinkreichen Hofeigentümer sich kaum oder überhaupt nicht um ihre Ländereien kümmern. Jedenfalls hat Josef seit dem Kauf seines Anwesens bisher auch nicht einen von ihnen zu Gesicht bekommen.
Die Rembowskis und ihre erwachsenen Besucher haben in der einen fünf Minuten entfernten Fußmarsch und etwas oberhalb gelegenen Casa Nueva – dem neuen, komfortableren Gästehaus – übernachtet. Josef hat es erst kürzlich erbauen lassen. Rund um einen größeren Gesellschaftsraum befinden sich die acht weiß getünchten Doppel- und zwei kleinere Einzelzimmer sowie zwei Duschbäder und eine Toilette – sogar mit Wasserspülung. Eine ergiebige Quelle, viel weiter oben auf dem Berg gelegen, versorgt die gesamte Hacienda mit reichlich frischem, kristallinem Wasser. Durch die landesüblichen Rohrleitungen aus dickeren durchstochenen Bambusstämmen rinnt das kostbare Nass und sammelt sich zunächst in einer sehr umfangreichen, aus Beton gemauerten Zisterne, von der aus die Versorgung für die beiden Häuser und den Kuhstall über getrennte Leitungen stattfindet. Eine Wohltat für alle, die hier wohnen: Sie können unbedenklich frisches Wasser direkt aus dem Wasserhahn trinken, ohne es vorher, wie in La Paz unbedingt geboten, abkochen zu müssen.
Die Besichtigungskolonne wandert an den mit dem Backofenbau beschäftigten Männern vorbei. Einige Hundert Meter entfernt steht der groß angelegte Hühnerstall.