Cantata Bolivia. Manfred Eisner
er freundlich, als er Frauke und Clarissa bemerkt. „Müssen Zaun ganz tief eingraben, sonst kommt Marder wieder und tötet unsere Hühner.“
Als die Kinder das umzäunte Gelände betreten, krähen die beiden Hähne aufgeregt, zahlreiche Hühner laufen erschrocken davon, andere flattern zum Vergnügen der jungen Besucher wild gackernd umher. Lissy hält sich die Hände schützend vor das Gesicht, ist aber nicht bange. Durch die Geräusche hellhörig geworden, kommt ein blondes, etwa zwölfjähriges Mädchen, das mit einem viel zu großen Overall und Gummistiefeln bekleidet ist, aus Richtung des Stallungstors auf sie zu. Überrascht blicken Lissy und Oliver die Erscheinung an. „Hallo, ihr müsst Oliver und Lissy sein, nicht wahr? Ich heiße Bärbel und bin die Tochter von Hans und Rosa Adler – die habt ihr ja schon gestern kennengelernt.“
„Hallo, guten Morgen, Bärbel“, antworten die Kinder einer nach dem anderen. Moses geht zu ihr und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Bärbel errötet und versucht abzulenken: „Wollt ihr mir beim Eiersammeln helfen? Dann kommt doch mit herein.“
Gespannt folgen Alfred, Oliver und Lissy der Aufforderung, nachdem die beiden Letzteren ein zustimmendes Nicken von Clarissa vernommen haben. Im großzügig angelegten Stallraum befinden sich Wandregale, die fast bis an die Decke reichen. In diesen stehen unzählige mit Stroh ausgelegte Holzkisten, in denen die Hühner ihre Eier ablegen. Bärbel und Alfred steigen die Leitern hinauf, woraufhin die Hennen aufgeregt gackernd umherflattern und lautstark gegen die Eindringlinge protestieren. Bärbel und Alfred reichen Oliver die eingesammelten Eier herunter, der sie vorsichtig in die dafür bereitstehenden Strohkörbe legt. Lissy stöbert inzwischen in den unteren Legekisten und hält kurz darauf Oliver mit perplexem Gesichtsausdruck ein weißes, hölzernes Ei vor die Nase. Alfred hat es bemerkt und erklärt, dass diese Schummeleier die Hühner täuschen und sie dazu animieren sollen, dem Gelege weitere Eier hinzuzufügen.
„Warum macht ihr das denn?“, fragt Lissy.
Alfred wendet sich hilfesuchend an Bärbel.
„Sieh mal, Lissy, wenn man alle Eier im Nest lassen würde“, erklärt diese, „dann setzen sich die Hühner darauf und bebrüten sie mit ihrem Körper einige Tage lang, und zwar so lange, bis die kleinen Küken aus den Schalen schlüpfen. Wir wollen aber die Eier entweder selbst essen oder sie verkaufen. Deswegen müssen wir sie den Hühnern wegnehmen, bevor sie mit dem Brüten anfangen.“
„Habt ihr denn gar keine Küken hier?“, fragt Oliver.
„Doch, da kommt mal mit.“
Alfred und Bärbel klettern wieder herunter. Dann betreten sie alle zusammen durch eine kleine Tür den ebenfalls kleinen Nebenraum. Dort laufen zu Lissys größtem Entzücken zwei Hennen auf dem Boden herum, denen je ein Dutzend schwach piepsender, goldgelber Küken hinterhereilen.
Während sich die Jüngeren mit Bärbel erneut auf Eierpirsch begeben, meint Thea zu Moses: „Ich hab keine Lust, nochmals den Hühnern unter den Popo zu fassen. Wollen wir nicht lieber wieder zurückgehen? Außerdem hatte ich Frau Schloß ja versprochen, ihr bei den Vorbereitungen für das Mittagessen zu helfen.“
Etwas verunsichert antwortet Moses: „Ja, ist vielleicht auch besser so. Ich muss noch meine heutige Geigenübung absolvieren und habe einiges nachzuholen. Also gut, gehen wir!“
Die beiden holen Frauke und Clarissa, die bereits vorgegangen sind, auf dem Weg zur Casa Vieja ein.
Neben dem Hauptgebäude treffen sie auf Josef Schloß, den tüchtigen schwäbischen Gärtner aus Waiblingen, der in seinem Gemüseeden gerade dabei ist, Zwiebeln, Karotten und Yuca, eine hier gut gedeihende einheimische Maniokknolle, die als Kartoffelersatz dient, für das Mittagessen zu ernten. Die kleine, schrullige, immer lustige und gut aufgelegte Gestalt, stets mit dem kalten Pfeifferl im Mund, grient die beiden Damen freundlich an und hält ihnen die von dunkler Gartenerde beschmutzten Hände entgegen. „Heute gibt’s frische Zwiebele, Kohlrabiles, Möhreles und das vermaledeite Yuca zum Fraß. Gute Kartoffeles mögen ja in dieser ruchlosen Gegend nicht gedeihen! Maledetto, maledetto!“, grunzt er. Dann wendet er sich, ein Lied vor sich her summend, wieder seiner Arbeit zu.
Neben ihrer Arbeit im Gemüsegarten und in der Küche greift das Ehepaar Josef und Martha Schloß jeweils in der Früh und am Abend den Adlers beim Melken tüchtig unter die Arme, denn mehr als fünfzig Milchkühe bevölkern den großen Kuhstall. Der Corral befindet sich abseits und etwa 200 Meter tiefer gelegen als die Casa Nueva. Ober- und unterhalb des lang gezogenen Stallgebäudes erstrecken sich weite, eingezäunte Stallungen und Koppeln an den sanften Hängen, in denen Jungbullen und Färsen getrennt die Nächte verbringen. Die Kälber werden in einem vom Stall seitlich abgetrennten Abteil gehalten. In einem Nebengebäude ist sowohl die kleine Käserei als auch die Wohnung der Familie Adler untergebracht.
Martha Schloß, die unterstützt von Luisa und Violeta in der Küche agiert, tritt heraus und begrüßt Frauke und Clarissa freundlich. Gerade geht Thea Kahn der Gehilfin Violeta beim Rösten von Kaffeebohnen zur Hand. In einem verrußten, schrägen Tontopf auf der offenen Holzflamme am Herd befinden sich die bereits gebräunten Bohnen, die mit einem Holzstab ständig in Bewegung gehalten werden. Dicker Rauch und ein herbes Aroma nach gebranntem Kaffee erfüllen den Küchenraum. Luisa weicht das luftgetrocknete dunkle Rindfleisch, die flachen Charque-Platten, in einer mit Wasser gefüllten Wanne ein, damit es aufquillt und wieder essbar wird. Frisches Fleisch gibt es hier nur, wenn Hühner, Kaninchen oder bisweilen gar ein Kalb geschlachtet werden. Schweinefleisch von den Indios aus der Umgebung gäbe es zur Genüge, aber man verzichtet darauf, aus Rücksicht sowohl auf die hier wohnenden und die als Gäste bewirteten Juden. Die gelegentlich auf den Tisch kommenden Wurstwaren stammen ausschließlich von Isaak Goldfarb, dem einzigen jüdischen Schlachter in La Paz. Darüber hinaus werden keine besonderen rituellen Vorschriften bei den Speisen eingehalten.
Luisa, Violeta und Rosita gehören der achtköpfigen Landarbeiterfamilie Saavedra an. Diese ist schon seit Generationen im Dienst Guayrapatas und wird auch weiterhin von Josef beschäftigt. Die Familie bewohnt ein kleineres weißes, mit Wellblech bedachtes Haus unterhalb der Casa Vieja inmitten eines zumeist mit Mais bepflanzten Ackers. Señor Saavedra ist bereits seit Langem verstorben, aber sieht man sich die sechs weiblichen und den einzigen männlichen Nachkommen der ziemlich korpulenten Señora Maria näher an, ist es wahrscheinlich, dass es nach ihm noch weitere Señores als deren Erzeuger gegeben haben muss.
Josef Schloß tritt vor die Küche, voll beladen mit zwei großen Körben Gemüse. Zum ersten Mal vernimmt Clarissa amüsiert seinen stets wiederkehrenden Singsang: „Si señor, no señor, wie kommst du mir denn vor?“
Unterhalb des großen Patios der Casa Vieja steht rechts neben den Stammholmen der Eingangspforte die kleine Kapelle der Hacienda. Daraus ertönen leise die Tonleitern und Etüden, die Moses gerade auf seiner Geige erzeugt.
Während Martha und ihre beiden Gehilfinnen emsig mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt sind, decken Clarissa und Frauke den Tisch für die zwanzig hungrigen Münder, die wohl bald eintreffen werden. Pünktlich um 12:00 Uhr erscheint Rosa Adler und betätigt kräftig den Klöppel der Glocke, die vor dem Magazin hängt. Die drei Glockenschläge und dazu der laute Ausruf: „Akuli!“ signalisieren den Landarbeitern in der Aymarasprache, dass jetzt Pause sei. Für die anderen ist es der Ruf zum Mittagsessen. Zu all jenen, die sich inzwischen miteinander bekannt gemacht haben, gesellt sich jetzt auch das Schweizer Urgestein Urs Brunner, der hauptsächlich den Adlers im Kuhstall assistiert.
Schon ganz früh am Morgen, sobald es hell wird, treibt Hans Adler mit Hilfe von Urs Brunner die Maulesel von der Koppel hinauf in den Vorhof der Casa Vieja und schließt hinter ihnen die Holme in der Pforte. Mit geübtem Griff wirft Hans den Tieren, die an diesem Tag dran sind, ein Seil um den Kopf und bindet sie an einem Balken fest. Dann prüfen die beiden die Rückenpartien der Mulas, denn einige weisen Bisswunden auf, die ihnen während der Nacht von Vampir-Fledermäusen zugefügt wurden. Mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Tampon geht Urs von Muli zu Muli, um sie alle zu verarzten, denn in diesem tropischen Klima infizieren sich die Wunden rasch. Zudem legen bösartige Fliegen