Cantata Bolivia. Manfred Eisner

Cantata Bolivia - Manfred Eisner


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an Moses’ Finger. Dann erinnert sich Moses plötzlich daran, dass er doch mit den Fingern sehr vorsichtig sein muss – er darf sich nicht verletzen. Das wäre schlimm für seine größte Leidenschaft, das Violinenspiel. Für ihn steht die Berufswahl schon seit seiner Kindheit fest: Er will unbedingt Musiker werden. Er ist tatsächlich sehr begabt, übt fleißig mehrere Stunden am Tag und ist der beste Schüler von Señor Osvaldo D’Amore, der sein Geigenlehrer am Konservatorium ist.

      Inzwischen versorgen die anderen Kinder die restlichen Kälber, die alle durstig nach ihrer Milch lechzen, in gleicher Weise, wie Moses es getan hat. Oliver steht unentschlossen dazwischen und hätte auch große Lust, ein Kalb zu füttern, aber noch fehlt ihm dazu der Mut. Lissy schaut verträumt umher und ist gefesselt von diesem Bild.

      „Was meint ihr, Kinder, wie wollen wir das neue Kälbchen nennen?“, fragt Rosa. Alle auf Guayrapata geborenen Kälber bekommen üblicherweise die Namen der gerade anwesenden Ferienkinder. So stehen da natürlich schon eine „Bärbel“ und eine „Thea“ in der Gruppe. Auch „Moisés“ und „Alfredo“ sind dazwischen, allerdings sind die kleinen Stiere weit weniger begünstigt als die Weibchen, denn ihnen droht schon nach wenigen Monaten der Weg zum schnöden Schlachter.

      „Meint ihr nicht, wir sollten sie Lissy nennen?“, schlägt Thea vor. „Und da ist auch der kleine Stier, der noch keinen Namen hat, den nennen wir Oliver.“

      Durch einstimmige, laute Akklamation wird der Vorschlag angenommen. So hat nun jedes der Kälbchen seinen Taufpaten und Lissy darf endlich ihr Patenkind streicheln. Schüchtern streicht sie mit ihrer Hand über das weiche, schwarz-weiß gefleckte Fell. Mit frohem Lachen quittiert sie die feuchte Schnauze, die ihr das Tier plötzlich unter den Rock steckt und diesen zur Belustigung aller hochhebt.

      Glücklich und zufrieden verlassen die Kinder wenig später den Kälberstall. Bärbel verriegelt vorsichtig die Tür.

      Als alle Kühe gemolken sind, werden sie losgebunden. Nach und nach verlassen sie den Stall. Meikuh und Faßele tragen kleine Kuhglocken um den Hals. Auch die Färsen, die noch nicht gekalbt haben und keine Milch geben, werden ins Freie gelassen. Nach labendem Aufenthalt an den Tränken trotten sie gemächlich auf den Berg, um hier und dort auf das begehrte Grünfutter zu stoßen. Stetig fressend steigen sie allmählich den Hang empor, bis man sie schließlich inmitten des dichten, grünen Gebüschs aus den Augen verliert. Nur ab und zu verrät ein Läuten, wo sie sich gerade aufhalten.

      Martha Schloß macht sich rasch auf den Weg zurück in die Casa Vieja, um dort für das Mittagessen zu sorgen. Für die anderen ist es an der Zeit, den Stall auszumisten. Alle ziehen Gummistiefel an. Kräftig schieben die beiden Saavedra-Mädchen gemeinsam mit Vater Schloß die nächtliche Fladen-Hinterlassenschaft der Rinder auf dem Betonboden des Stalls zusammen. Alfred und Moses helfen tatkräftig mit, auch Oliver versucht sich an der Schaufel und die drei füllen Schubkarre für Schubkarre mit den Kuhfladen. Vater Schloß fährt die voll beladenen Karren durch die hintere Stalltür hinaus, wo der Dung auf einen Haufen am Hang hinabgeschoben wird. Dann spritzt er im Stall die Dungreste mit einem Wasserschlauch vom geriffelten Estrichboden. Das grünliche Abwasser fließt zur Stallmitte und unter der mit Gitterrosten abgedeckten Abflussrinne ins Freie.

      Rasch vergehen die Stunden, dann müssen sich alle sputen – es ist Mittagszeit. Schon während des gehetzten Händewaschens vernehmen sie das Läuten der Mittagsglocke und den durchdringenden „Akuli“-Ruf Rosa Adlers. Höchste Eisenbahn also, um zu Tisch zu eilen!

      Zur Freude der Kinder gibt es heute nach der unweigerlichen Gemüsesuppe Rindswürstchen vom Schlachter Goldfarb aus La Paz, dazu Kartoffelsalat. Zum Nachtisch hat Luisa einen Grießbrei vorbereitet, der mit dem selbst gemachten Brombeersirup übergossen wird. Nach dem Essen heißt es: Siesta bis um halb drei Uhr. Alle ziehen sich zurück. Da draußen die Sonne brennt und es sehr heiß ist, ist man froh, sich im Haus etwas abkühlen und dabei ausruhen zu können. Die Hunde Chiquita und Dickusch dösen im Schatten vor dem Magazin. Nur die beiden Saavedramädchen sind noch da: Sie decken den Tisch ab, waschen Geschirr und Kochtöpfe ab und säubern schließlich Esszimmer und Küche. Dann gehen auch sie hinunter in ihr Häuschen.

      Pünktlich um halb drei läutet nochmals die Glocke. Diesmal ist es Vater Schloß, der ein lautes „Akuli listo!“ in die Luft schmettert. Damit ist für alle die Mittagspause beendet. Dann stimmt er vergnügt sein immer wiederkehrendes „Si señor, no señor, wie kommst du mir denn vor?“ an und wendet sich seiner Arbeit im Gemüsegarten zu.

      Luisa hat bereits große Kannen mit duftendem Kaffee für die Erwachsenen und kalte Milch für die jungen Leute auf den Tisch gestellt. Dazu stehen große Stücke Gugelhupf bereit, den Heiko zusammen mit Ruth Kovacs am Vortag im kleinen Backofen der Küche gebacken hat. Miguel Saavedra, mit einem übergroßen Sombrero aus Stroh auf dem Kopf und einem langen Hirtenstab in der Hand, stößt jetzt auf die Gruppe. Er wird von allen begrüßt und mit Oliver und Lissy bekannt gemacht. Auch er bedient sich an Kaffee und Kuchen, denn er leitet das allnachmittägliche Heimholen der Rinder von den Feldern und Wäldern, wohin die Tiere während ihrer Tageswanderschaft auf der Suche nach Futter geraten sind. Dem geschickten Späher gelingt es stets, auch die hinterlistigsten versteckten Kühe zu finden und sie aus ihrem Schlupfloch herauszutreiben. Bei ihm kann man sicher sein, dass alle Rinder vollzählig in den Corral zurückkehren.

      „Wer trommelt jetzt bei dir auf dem Maisfeld, während du weg bist?“, fragt Oliver neugierig.

      Miguel antwortet belustigt: „Meine Mutter, Doña María, aber die kann nicht so laut rufen wie ich, deswegen haben es nun die Rebhühner für drei Stunden leichter, an ihr Futter zu herankommen. Aber es macht nichts, die müssen ja auch leben, und außerdem, wenn sie schön fett sind, schießen wir gern einige von ihnen zum Essen ab. Gebraten schmecken nämlich Perdices und Becasinas wirklich sehr gut!“

      Nachdem sie sich gestärkt haben, macht sich die Gruppe aus Bärbel, Alfred und Thea unter Miguels Führung auf den Weg, um die Rinderherde hereinzuholen. Die beiden Schäferhunde laufen ihnen freudig hinterher. Moses kann nicht mitkommen, er geht hinunter zur Kapelle. Da er den ganzen Vormittag im Corral verbracht hat, muss er jetzt seine Übungsstunden nachholen. Bald darauf ertönen leise Geigentöne aus dem kleinen Bethaus.

      Rosa Adler schlägt Oliver und Lissy vor, mit ihr wieder in den Kuhstall zu gehen, um sich dort an das Käsewenden zu machen. „Hans und Urs müssten mit den Mulas bald wieder hier sein. Sobald sie abgeladen sind, könnt ihr zur Casa Vieja zurückreiten.“

      Die beiden Kinder folgen der flott vorausgehenden Rosa bis in den Corral. Dort angelangt, gehen sie um den Stall herum bis zur dahinter gelegenen Käserei. Hans Adler hat eine ehemals neben diesem Gebäude in den Berg geschlagene Grotte erweitert, deren Wände mit Mörtel geglättet und dann weiß gekalkt. Anschließend wurden Holzregale an die Wände gebracht, auf denen jetzt viele etwa dreißig Zentimeter große, runde Käselaibe jeweils zwei bis drei Monate lagern, um zu reifen. Ein schweres, mit einer dicken Kette und einem Schloss versehenes hölzernes Tor sichert den Eingang zum dunklen und kühlen Gewölbe. Unter Rosas Anleitung werden nun alle Käselaibe nacheinander auf einen Tisch gelegt, mit trockenen Leinentüchern abgewischt, mit Salzlake bepinselt und schließlich mit der zuvor unteren Seite nach oben wieder ins Regal gelegt. „Dies machen wir alle zwei Tage, damit der Käse trocknen, sich aber kein Grünschimmel an der Oberfläche bilden kann, denn der ist gesundheitsschädlich“, werden die Kinder belehrt.

      „Aber Onkel Josef hat uns einmal einen Käse mit nach Hause gebracht, der innen voll mit grünem Schimmel war“, meint Oliver erstaunt. „Er hat gesagt, dass dies in Frankreich eine beliebte Käsesorte sei. Aber er schmeckte sehr streng, ich habe ihn nicht gemocht.“

      Rosa lächelt. „Du hast recht, Oliver, du meinst sicherlich den Bleu-Roquefort-Käse. Ja, der hat einen grünblauen Schimmel im Inneren, aber dabei handelt es sich um eine essbare Schimmelart, die nicht schädlich für den Menschen ist. Außerdem ist dieser Käse aus Schaf- und nicht aus Kuhmilch. Sieh, mal hier“, sie zeigt auf einen grünen Schimmelrand, der sich auf einem der Regalbretter gebildet hat, auf dem sich jetzt gerade kein Käselaib befindet, „dies ist der Grünschimmel, den ich meine, der sieht doch ganz anders aus als der im Käse, nicht wahr?“ Sie wischt den Schmarotzer mit einem in Essig getränkten


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