Cantata Bolivia. Manfred Eisner

Cantata Bolivia - Manfred Eisner


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unsere Männer! Danke für die Hilfe, wir sind hier ja fertig, lasst uns rausgehen!“

      Erwartungsvoll laufen die Kinder voran, während Rosa das Tor mit der Kette sichert. Von Urs und Hans angetrieben, kommen nach und nach die voll beladenen Maulesel mit behutsamem Schritt den abschüssigen Weg herunter. Die durstigsten unter ihnen halten an den Wassertränken, um zu saufen.

      „Hallo, Kinder! Wie geht es euch?“, fragt Hans.

      „Prima, Herr Adler“, antwortet Oliver.

      Lissy steht etwas schüchtern hinter dem Bruder, die Mulas sind ihr immer noch nicht ganz geheuer.

      Rosa reicht den beiden Männern große emaillierte Becher mit Kaffee und eine deftige, mit einer dicken Käsescheibe belegte Butterstulle. Nachdem Urs und Hans gegessen und getrunken haben, machen sie sich sofort daran, die sechs Maultiere zu entladen. Die restlichen Mulas wurden bereits an der Casa Vieja von ihrer Last befreit. Als die festgezurrten Halteseile gelöst sind, werden die Tiere von den drei Jutesäcken mit Weizenkleie erleichtert, indem diese einfach zu Boden geschubst werden. Mit der Sackkarre werden sie anschließend in das kleine Magazin neben dem Corral gebracht. Plötzlich packt Urs ohne Vorwarnung Oliver und setzt ihn auf eines der Maultiere. Ehe Lissy protestieren kann, sitzt sie auch schon vor Oliver, der sie fürsorglich festhält.

      Dann ruft Urs den anderen Mulis laut „Vamos, vamos!“ zu und nimmt das Tier, das die beiden Kinder trägt, an die Leine. Die Karawane zieht langsam den Hang empor, zurück zum alten Haciendahaus. Bald ist auch Lissy froh, dass ihr diesmal der Gang zu Fuß erspart bleibt.

      Nachdem sie ihr Ziel erreicht haben, werden die Mulis vom Sattelzeug befreit. Urs besieht sich eines der Tiere, dessen Rückenwunde durch die heute getragene Last böse aufgescheuert wurde. Er bindet das Tier an den Balken. Dann holt er aus dem Magazin ein mit einer Desinfektionstinktur getränktes Leinentuch. Damit nähert er sich vorsichtig der nervös gewordenen Mula, die ihn misstrauisch beäugt. Offensichtlich hat das Tier mit der nun folgenden, recht schmerzhaften Behandlung bereits früher Bekanntschaft gemacht, denn es tänzelt unruhig hin und her. Urs packt es kurz an der Mähne und behandelt die offene Wunde mit dem mitgebrachten Tuch. Das Maultier schlägt mehrfach mit den Hinterläufen aus, aber Urs hält es eisern fest. Dann, ganz langsam, beruhigt es sich wieder und lässt brav den Schweizer gewähren, der nun die Wunde sanft mit einer lindernden Salbe bestreicht und sie danach mit einem sauberen Leinentuch bedeckt. „Darfscht di nu ine Wochlang uf de Matte usruhe!“, flüstert er in das lange Ohr des Tieres. Dann löst er vorsichtig den Griff an der Mähne und krault das Tier liebevoll an Kopf und Ohren, schließlich befreit er es von der Leine. Durch die geöffnete Tranquera galoppiert es eilig seinen Artgenossen auf die Koppel hinterher.

      Kurz darauf kommen auch schon die ersten Rinder durch die Pforte, gefolgt von den japsenden Chiquita und Dikusch, die sofort gierig an ihrem Wassernapf schlabbern. Vater Schloß dirigiert das Vieh gleich weiter auf den Weg zum Kuhstall. Weiter unten ist das Rufen der Treiber zu hören, die eine hier oder dort zum Fressen stehen gebliebene Kuh zum Weitergehen auffordern. Fruchtet der „Vamos, vamos!“-Ruf nicht, greift Miguel zum probaten Mittel seiner Indio-Schleuder. Er ist ein treffsicherer Schütze, der die runden kleinen Steine, die er in einem Ledersäckchen am Gürtel trägt, zielgerecht den zögernden Tieren auf den Rücken schießt.

      Den Tieren, die sich jetzt alle auf den sicheren Weg in den Rindercorral machen, folgen die wackeren, aber durch und durch verschwitzen Treiber, die erst einmal ihren Durst mit einem mit Wasser verdünnten Limasaft stillen. Lima, diese leicht bitter-sauer-süß schmeckende Zitrusfrucht, ist wohl aus einer Kreuzung von Limonen und Orangen entstanden und gedeiht hier auf Guayrapata im Überfluss. Unter deren grünlich-gelben, hauchdünnen Schale und einer ebenso zarten weißen Albedoschicht zeigen sich die saftigen, hellgelblichen Fruchtsegmente, die man sowohl als Frucht als auch zu einem erfrischenden Trunk gepresst genießen kann.

      Nachdem die Herde ihren Durst an den Stalltränken gelöscht hat, sondert Miguel geschickt die Färsen aus dem Pulk aus und treibt sie auf ihre Koppel. Die Milchkühe finden selbstständig den Weg hinunter in den Stall und jede steuert ihren unter der jeweiligen Namenstafel angestammten Platz an. Dort werden sie von Hans, Bärbel und Urs angeleint und auf etwaige Verletzungen untersucht. Bärbel sagt zu Urs: „Sieh mal, die Lieselotte hat zwei große Garrapatas am Hals.“ Urs holt eine Zeckenpinzette aus seiner Weste und entfernt damit die mit Blut vollgesogenen Schmarotzer. Diese werden in einer verschließbaren Dose gesammelt. Wenn die voll ist, werden die Zecken an die Hühner verfüttert, die sich diese Delikatesse nicht entgehen lassen. „Morgen früh werden wir die Kühe nach dem Melken mal wieder mit Auto-Altöl einschmieren“, sagt Hans. Diese bewährte Methode wird schon seit Langem gegen die Zecken eingesetzt. „Das Altöl reicht nicht mehr für alle“, antwortet Urs. „Patrón Rembowski muss für Nachschub sorgen.“

      „Na gut, dann eben soweit der Vorrat reicht.“

      Hans bittet Miguel, der sich nach getaner Arbeit gerade verabschiedet, auch morgen früh zu kommen, um beim Einschmieren zu helfen. „Muy bien, Don Hans, hasta mañana!“, bestätigt Miguel mit einem Lächeln und lüftet dabei seinen breiten Sombrero.

      Hans, Rosa, Urs, Bärbel und auch Vater Schloß machen sich jetzt eifrig ans Melken.

      Flugs und ereignisreich ist dieser Nachmittag vorübergegangen. Die Hitze lässt langsam nach, die Sonne neigt sich allmählich dem gegenüber gelegenen Bergkamm zu. Alle Kinder haben sich inzwischen an der Casa Vieja versammelt. Martha Schloß scheucht sie auf: „Rasch ausziehen, und dann ab zum Duschen ins Badehaus! Nehmt euch aber vorher aus eurem Zimmer Handtücher und saubere Wäsche mit. Schmutzige Sachen kommen in den Korb!“

      Thea und Bärbel nehmen Lissy mit in das Damenabteil, während sich Oliver zu Alfred und Moses in den daneben gelegenen Duschraum gesellt. An dessen Tür steht in schwarzen Buchstaben: „Hombres“ – Männer. Oliver will sogleich den Wasserhahn einer Dusche aufdrehen, doch Moses hält ihn mit einem vielsagenden Grinsen davon ab. Von nebenan vernehmen die Buben genüsslich das Juchzen der Weiblichkeit unter dem aus der Rohrleitung strömenden, zunächst noch kühlen Wasser, das erst allmählich in eine angenehme, warme Temperatur übergeht. Jetzt erst öffnet Moses den Duschhahn. Während sich die Jungen einseifen, beobachtet Oliver verwundert die Geschlechtsteile seiner Kameraden, die, im Gegensatz zu seinem Penis, keine Vorhaut haben. Auch Moses und Alfred bemerken irgendwann ebenfalls Olivers „kleinen Unterschied“. Keiner von ihnen wagt etwas zu sagen, sie sehen sich nur gegenseitig stumm an. Wortlos stehen sie noch eine Weile unter den Duschköpfen, dann trocknen sie sich ab und ziehen ihre frischen Sachen an. Moses verlässt, gefolgt von Alfred, als Erster den Duschraum. Oliver bleibt zunächst zurück und weiß nicht, was er denken soll. Völlig konfus über die soeben gemachte Entdeckung, sitzt er auf der Holzbank und hält den Kopf zwischen seinen Händen. Irgendwie rollen plötzlich dicke Tränen über seine Wangen.

      Moses, der ja um einiges älter ist als Oliver, hat dessen Ratlosigkeit bemerkt. Vertrauensvoll wendet er sich an Vater Schloß und erzählt ihm, was sich soeben zugetragen hat. Dieser nickt nur kurz, gibt Moses einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und geht unverzüglich ins Duschhaus.

      Schweigend setzt er sich neben Oliver auf die Bank, reicht ihm ein Taschentuch und legt den Arm über seine Schulter. „Du musst dir keine Sorgen machen, mein lieber Junge. Das, was du soeben gesehen hast, ist ganz natürlich und normal. Du bist kein Sonderling, weil du da unten ein wenig anders aussiehst als die anderen Jungs. Wenn wir Männer geboren werden, sehen wir alle genauso aus wie du, weißt du? Bei uns Juden ist es nur so, dass wir von Gott ein Gebot erhalten haben, dieses Stückchen Haut an der Spitze des Gliedes zu entfernen, um mit Ihm den Bund zu schließen. Das passiert schon am siebten Tag nach unserer Geburt, und es wird von einem dafür besonders geschulten Mann, dem Mohel, durchgeführt. Danach gibt es ein großes Familienfest – so ähnlich wie bei der Taufe der Christen, bei denen du aufgewachsen bist. Bist du getauft worden?“

      „Nein, Vater Schloß“, schluchzt Oliver, den die sachliche Erzählung ein wenig beruhigt hat. „Ich glaube, meine Mami ja, aber Papi und Lissy auch nicht. Ich habe schon im Religionsunterricht bei Herrn Bremer vieles erfahren, aber das, was Sie mir jetzt gesagt haben, hab ich nicht gewusst.“

      Die Glocke läutet.


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