Ein Wandel der Gesinnung. Hanspeter Götze

Ein Wandel der Gesinnung - Hanspeter Götze


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Defizite taten sich bei mir in Hinsicht auf das Erfassen der Umwelt auf. Allein beim Wechsel der Jahreszeiten hatte ich Schwierigkeiten mit der richtigen Zuordnung. Saisonbedingte Ereignisse wie die Erdbeer- oder Pilzzeit wurden nicht wahrgenommen, da ich diese Nahrungsmittel ganzjährig in der Dose beim Discounter erwerben konnte. Fiel mir dann nach etlichen Stürzen auf, dass sich die Sommerschuhe mit glatter Sohle nicht für den schneebedeckten Boden eigneten, wurde zum Kauf von passendem Schuhwerk griesgrämig Geld aus der Bierkasse entnommen. Für einen Laien ist diese Lebensform zwar nicht nachvollziehbar, entspricht aber dem eines typischen Kneipengängers, welcher mit der Schönheit und Vielfältigkeit der Natur nichts anfangen kann und lieber seine Barschaft in alkoholische Getränke umsetzt. Die einzigen Veränderungen, welche man in dieser Phase noch erkennt, sind das schlecht eingeschenkte Bier oder das Fehlen der Papierrolle auf der Toilette.

      Nach Beendigung eines arbeitsreichen Tages gehörte es zu einem Muss, die erlittenen Strapazen innerhalb der Brüderschaft in allen Details noch einmal zu schildern. Hier kam mir mein letzter Job als Kurierfahrer entgegen, da sich während der Tätigkeit immer wieder neue Situationen abspielten. Ganz im Gegensatz zu den Langzeitarbeitslosen, welche geduldig in der Schenke auf einen vermeintlichen Arbeitgeber warteten. Um die dafür notwendige Ausdauer sinnvoll zu nutzen, führte man heiße Debatten über den verschwenderischen Umgang des Staates mit „unseren“ Steuergeldern. Ihr Beitrag als Hartz-IV-Empfänger lag lediglich in der Abgabe der Tabak- und Alkoholsteuer. Daher führte ein Anheben der Bier- und Zigarettenpreise, aufgrund der niedrigen Lebensunterhaltskosten fürs Nichtstun, zu heftigen Debatten. Ansonsten wurde in diesem geselligen Kreis das Blaue vom Himmel gelogen und jeder warf seine Verbesserungsvorschläge dazwischen. Auch die knappen Gesprächspausen wurden mit kurzem „Zuprosten“ sinnvoll ausgefüllt. Hier rechtfertigten sich selbst die Ein-Euro-Jobber für ihre Arbeitsweise, die aufgrund des Rausches vom Vortag als besonders schwer anzusehen war. Schließlich mussten sie mit zittriger Hand und der verlängerten Kneifzange die einzelnen Zigarettenkippen vom Bürgersteig aufsammeln, welches zur öffentlichen Sauberkeit beitrug. Es gab aber auch einige Scheinarbeiter in unserer eingefleischten Clique, die mit einem ausgegrabenen Blaumann versuchten, uns ein festes Beschäftigungsverhältnis vorzugaukeln, um anerkannt zu werden. Selbst als Alkoholiker musste man um seine Zugehörigkeit kämpfen. Bei Nichtbeachtung der gängigen Regeln drohte die Verdammung vom Stammtisch.

      Im Gegensatz zu anderen Interessengemeinschaften bedurfte es bei uns Suchtkranken keines Kassenwartes, da wir eh alle pleite waren. Aus diesem Grund übernahm der Wirt die buchhalterische Tätigkeit und zog pünktlich zum Ersten des Monats die erschütternde Bilanz aus unseren feuchtfröhlichen Hinterlassenschaften. So diente der Alkohol nicht, wie oft vermutet, zur Entspannung, sondern war nichts anderes als ein unsicherer „Wirtschaftsfaktor“.

      Ich fügte mir durch die Trinkerei zu den schon vorhandenen Problemen noch zusätzliche Belastungen hinzu, welche immer mehr auf meinen Gemütszustand drückten. Man wurde zum Jonglieren mit Zahlen genötigt, damit man einigermaßen über die Runden kam. War kein Land mehr in Sicht, hoffte ich auf eine Eingebung. Doch da ich auf einen Lotsen verzichtete, war es nicht verwunderlich, das ich immer in den falschen Hafen einlief. Es entstand eine Eigenliebe, die mich vor all den bösen Einflüssen bewahren sollte. Gedanklich ging ich meinen eigenständigen Weg, wohl wissend, dass es diesen gar nicht gab. Dies waren nur Ausreden, um der Wahrheit auszuweichen.

      Als sich dann mein Seelenleben zusehends verschlechterte, drängte sich der Gedanke nach einer erneuten Therapie auf, doch wollte ich vorab noch das Ergebnis des körperlichen Verfalls abwarten, welches sich wie nachstehend zusammensetzte: Die Fahrlässigkeit im Umgang mit meiner Gesundheit gab selbst bei schmerzlichen Geschehnissen keinen Anlass zum Umdenken in der Verhaltensweise. Wurde ich von einem Leiden in Anbetracht aufopferungsvoller, ärztlicher Hilfe errettet, stellte ich einen sofortigen Kontakt zu meinem damaligen Weggefährten, dem Alkohol, wieder her, um mich unaufhaltsam in die nächste Gefahrensituation zu begeben.

      Eigentlich hätte die damalige Operation eines bösartigen Stimmbandkarzinoms bei einem normal Denkenden zu einer radikalen Änderung des Lebenswandels geführt. Doch hielt mich selbst die Verkündung des Stimmenverlustes durch den Professor der Uni-Klinik in Göttingen nicht davon ab, die Zerstörung des Körpers mit Alkohol und Nikotin fortzusetzen. Tage vor dem unvermeidlichen chirurgischen Eingriff saß ich wie ein Häufchen Elend in der Kneipe und konnte ohne funktionierendes Sprachorgan die Bestellung nur auf einen Zettel notieren. Das ganze Leben wurde mir im Zeitraffertempo noch einmal vorgeführt und ich fiel in Bedrücktheit. Eine Woche nach dem guten Verlauf der OP war alles wieder vergessen und ich konnte mit krächzenden Lauten am heimischen Stammtisch über das Erlebte Bericht erstatten. Zu meiner Ehrenrettung muss ich hierzu noch anführen, dass ich innerhalb der nächsten Jahre sämtliche Termine zur Nachsorge wahrnahm, da sich die Angst über eine mögliche Streuung in meinem Gedächtnis eingeprägt hatte.

      In der Folgezeit meines beklagenswerten Handelns tauschte ich noch mehrfach meine Wohnung gegen ein Krankenhausbett. Bei diesen unfreiwilligen Aufenthalten lernte ich nicht nur viel über die Anatomie des menschlichen Lebewesens kennen, sondern war auch maßgeblich an der Einrichtung einer Zimmerbar beteiligt. Mein Bettnachbar und ich funktionierten unsere Beistelltische zu einem Bierdepot um. Es war erstaunlich, dass wir in unserem Privatleben ähnliche Interessen vertraten und diese in der Klinik weiterhin wahrnahmen. Nach der vollzogenen Abendvisite gestalteten wir einen feuchtfröhlichen Gemeinschaftsabend. Für die Bierversorgung waren die Besucher verantwortlich, welche stets darauf bedacht waren, dass es zu keinem Engpass kam. Hatte einer von uns beiden am nächsten Tag eine Magenspiegelung, waren wir dazu angehalten, das Besäufnis um einige Stunden vorzuziehen. Das vereinbarte Treffen nach meiner Entlassung in einer Kneipe fand durch den plötzlichen Tod des netten Zimmernachbarn nicht mehr statt.

      Da sich bei mir die unter Alkoholeinfluss passierten Unfälle häuften, gehörten die Aufenthalte in den verschiedenen Krankenhäusern schon zu einem routinemäßigen Vorgang. Viele Fragen über den tatsächlichen Unfallhergang musste ich in den meisten Fällen aufgrund der Bierfahne oder eines eiligst durchgeführten Alkoholtests nicht mehr beantworten.

      Besonders desaströs verlief die Einlieferung in die Notaufnahme nach einem erlittenen Bruch des Sprunggelenks. Dies alles geschah nach einer ausgiebigen Feier, als mich ein Bekannter aus reiner Vorsichtsmaßnahme von der Kneipe nach Hause fuhr. Beim schwungvollen Aussteigen verkantete ich mich mit dem linken Bein zwischen dem Autounterboden und der Bordsteinkante. Da mein Fahrer mich danach nicht mehr sah, stieg er sicherheitshalber aus dem Kraftfahrzeug und entdeckte mich unter seinem Auto liegend. Als er mich dann mit aschfahler Gesichtsfarbe auf den Bürgersteig zog, sagte ich nur: „Danke, das geht schon wieder.“ Erst bei einem Blick auf meinen Haxen erkannte ich den Ernst der Lage. Mein Fußgelenk hatte sich sprichwörtlich quergestellt und der herbeigerufene Notarzt sowie die Rettungssanitäter trauten ihren Augen nicht, als der Alkomat einen Wert von 4,2 Promille anzeigte. Dadurch erübrigte sich für das OP-Team die Frage nach einer Vollnarkose bei der für den folgenden Tag (Sonntag) angesetzten Notoperation. Aufgrund der veranlassten örtlichen Betäubung konnte ich über die Gesamtdauer der Wiederherstellung des lädierten Fußes die gegen meine Person gerichteten Gespräche des Ärzteteams verfolgen, bei denen ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.

      Nach Ende des dreiwöchigen Klinikaufenthaltes hatte sich die Landschaft in ein Wintermärchen verwandelt und ich war an den Rollstuhl gefesselt. Doch selbst diese erschwerten Umstände hielten mich nicht davon ab, auch bei diesen Witterungsverhältnissen meine Stammkneipe für das geliebte Weizenbier aufzusuchen. Für die 150 Meter benötigte ich mit dem Gefährt eine halbe Stunde durch den knöcheltiefen Schnee. An dieser einstig aufgebrachten Energieleistung lässt sich im Nachhinein ersehen, welchen Drang ich verspürte, um der Sucht hinterherzulaufen. Auftretende Schmerzen vergingen nach einigen Bieren von allein und man fühlte sich nach erfolgreichem Zusammenflicken zu neuen Aufgaben berufen. Unbeirrt der mahnenden Worte von den behandelnden Ärzten, endgültig die Finger vom Alkohol zu lassen, setzte ich meine Säuferkarriere unvermindert fort.

      Es muss in dieser Zeit irgendjemand seine schützenden Hände über mich gehalten haben, damit ich heute das Erlebte noch niederschreiben kann. Durch die immer wiederkehrenden Fallattacken auf dem Heimweg war der Gaststättenbesuch mit einer gewissen Risikobereitschaft verbunden. Außerdem wurde ich durch meine eiernde


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